Die regierende nationalkonservative PiS hat die polnische Parlamentswahl gewonnen. Die ersten Prognosen nach Schließung der Wahllokale sehen die PiS bei 36,8 Prozent und die Bürgerkoalition (KO) des Herausforderers Donald Tusk bei 31,6 Prozent. Tusk sagte in einem ersten Kommentar: „Die Demokratie hat gewonnen.“ Das bezog sich vor allem auf die Rekord-Wahlbeteiligung von 73 Prozent. Was man als fairer Verlierer halt so sagt, wenn es nicht ganz gereicht hat.

Allerdings kann die Sache für Tusk durchaus noch gut ausgehen, denn er hat erstens deutlich besser abgeschnitten als in den letzten Umfragen. Die PiS ist zweitens zwar stärkste Partei, hat aber keine eigene Mehrheit und nur einen einzigen und höchst schwierigen Koalitionspartner, die weit rechtsstehende „Konföderation“. 

Deren Ergebnis liegt mit bloß 6,2 Prozent unter allen Erwartungen. Tusks potenzielle Koalitionspartner – der rechtsliberale „Dritte Weg“ und die „Linke“ – haben ihre Wahlziele erreicht. Zusammen könnten die Oppositionsparteien im Sejm, dem polnischen Parlament, eine Mehrheit bilden. Zunächst aber wird der Regierungsauftrag wohl an die stärkste Partei gehen, und das ist mit großer Sicherheit die PiS, selbst wenn das morgen zu erwartende amtliche Endergebnis noch um ein paar Punkte abweichen sollte.

Die Wahl in Polen ist für Europa von grundsätzlicher Bedeutung

Selten hat eine Wahl in Polen so viel Aufmerksamkeit erfahren wie diese. Und das zu Recht. Es ist klar, warum die heutige Wahl in Polen auch für Deutschland so wichtig ist wie keine zuvor: Polen ist als Wirtschaftspartner bereits fast so bedeutend wie Frankreich. Bei der Unterstützung der Ukraine geht nichts ohne Kooperation mit Warschau. Und die regierenden Nationalkonservativen von der PiS haben die Wahl durch germanophobe Propaganda zu einer Art Referendum über Deutschland gemacht. 

Donald Tusk wurde täglich und immer krasser als Agent deutscher Interessen verunglimpft. Berliner Politiker waren genervt, hielten sich aber mit Kommentaren zurück, um die Propagandamaschinerie der polnischen Regierung nicht auch noch zu füttern. Das war sicher klug, dennoch entstand über die letzten Monate ein krankes Verhältnis zwischen zwei so bedeutenden Nachbarn. Die eine Seite beschimpfte die andere permanent – und diese tat so, als bekomme sie das nicht mit.

 Aber so wichtig die Wahl wegen des deutsch-polnischen (Nicht-)Verhältnisses auch ist – da ist noch ein Grund, warum die Welt auf Polen schaut: Angesichts des hässlichen Wahlkampfs kann man leicht vergessen, welch ein Schlüsselland Polen der jüngsten Geschichte für die europäische Demokratie gewesen ist.

Hier begann mit den Streiks auf der Danziger Lenin-Werft im Jahr 1980 die zweite große Welle der Demokratisierung. Ohne den Mut der Polen kein Ende des Sowjet-Totalitarismus, keine deutsche und auch keine europäische Wiedervereinigung. Das ist der Hintergrund für das Drama dieser Wahl. Heute geht es in Polen um die Frage, ob der Niedergang der freiheitlichen Demokratie gestoppt und umgekehrt werden kann. 

Darum ist die Wahl in Polen von grundsätzlicher Bedeutung für Europa und darüber hinaus: Hier steht ein breites Bündnis der politischen Mitte gegen nationalistisch-populistische Kräfte, die sich bereits weite Teile der staatlichen Institutionen Untertan gemacht haben. 

Kann man die freiheitliche Demokratie mit ihren eigenen Mitteln retten? 

Es geht auch um die Frage, ob das Modell Volkspartei der rechten Mitte noch in die heutige Zeit passt. Donald Tusk, der Oppositionsführer, hat mit seiner Bürgerkoalition (KO) ein schlagkräftiges Bündnis aufgebaut. Es vereint kritische Katholiken, um Frauenrechte besorgte Feministinnen, Wirtschaftsliberale, Sozialliberale, Bauern, Landbewohner und urbane Eliten. Es ist eine klassische big-tent-party, wie sie in westlichen Demokratien auszusterben droht. In Italien, Frankreich, Großbritannien und den USA sind Volksparteien der rechten Mitte bereits verschwunden oder zur Beute radikaler Randströmungen geworden, wie bei den US-Republikanern. Auch in Deutschland ist der rechte Zentrismus gefährdet, wie die Brandmauer-Debatte zeigt.

Kann man die freiheitliche Demokratie also mit ihren eigenen Mitteln retten? Mit einer breiten Koalition, die unterschiedlichste Interessen vereint? Das ist die Frage, die sich in den Tagen und Wochen nach dieser Wahl stellen wird. 

Die Antwort muss unter erschwerten Bedingungen gegeben werden. Die regierende PiS, angeführt von Jarosław Kaczyński und seinem Premier Mateusz Morawiecki, hat sich den Staat binnen zweier Legislaturperioden zur Beute gemacht. Der öffentliche Rundfunk ist vollständig mit loyalen Parteileuten besetzt, ebenso weite Teile der Justiz. Staatliche Unternehmen, wie etwa der Energiekonzern Orlen, wurden instrumentalisiert, um Wahlgeschenke zu verteilen (die Gas- und Treibstoffpreise wurden bis zum Wahltag gedrückt). Die Zentralbank senkte die Zinsen, Lehrer bekamen ein 14. Monatsgehalt, eine beträchtliche Erhöhung des Kindergelds wurde angekündigt.  

Kleinen, ländlichen Wahlbezirken (in denen PiS-Wähler überwiegen) versprach man besondere Prämien für hohe Wahlbeteiligungen. Die Zählung der Stimmen der polnischen Diaspora hingegen (die der Opposition zuneigt) beschränkt eine neue Regelung auf einen Zeitraum von 24 Stunden. Stimmen, die bis dahin nicht gezählt sind, verfallen.  

Und schließlich hatte die Regierung die Parlamentswahl mit einem Referendum voller angstmachender Suggestivfragen kombiniert: Sind Sie dafür. „tausende illegaler Migranten“ aufzunehmen, wie es „die EU-Bürokratie diktiert“? Befürworten Sie die Erhöhung des Rentenalters? Den Verkauf von Staatsbetrieben? Die Entfernung der Grenzzäune nach Belarus?

Die nächsten Schritte nach der Wahl

All diese Winkelzüge führen internationale Beobachter und auch viele Polen zu dem Schluss, diese Wahlen seien zwar frei, aber nicht fair. Die Rekord-Wahlbeteiligung spricht dafür, dass viele Menschen dagegenhalten wollten. Aus aller Welt – von Berlin über Washington bis London – wurden heute Bilder gepostet, die lange Schlangen vor den Wahllokalen im Ausland zeigten. Wie geht es nun weiter? 

Der Präsident (der PiS-Politiker Andrzej Duda) wird der stärksten Partei den Auftrag erteilen, eine Koalition zu bilden. Er benennt einen Premier, der eine absolute Mehrheit im Sejm braucht, dem polnischen Abgeordnetenhaus, also mehr als die Hälfte der 460 Mandate.

Für die PiS kommt als Partner zur Mehrheitsbeschaffung dabei zunächst die noch weiter rechts stehende Konfederacija in Frage, eine nationalistisch-neoliberale Partei, die in der Vergangenheit immer wieder gegen Juden und LGBTQI gehetzt hat. Bislang hatte die Konföderation eine Koalition immer ausgeschlossen. Selbst wenn es der PiS gelänge, sie doch in eine Koalition zu locken, würde es nicht reichen. Denn die Rechtspartei hat nur enttäuschende 12 Mandate errungen. Die PiS muss nun also versuchen, Abgeordnete anderer Parteien mit lukrativen Posten abzuwerben. Nach jetzigem Stand fehlen ihr fast 30 Mandate. 

Es gibt Siege, die von Niederlagen kaum zu unterscheiden sind. Am Ende dieses Wahlabends hat die PiS keine klare Machtoption. Gelingt die Koalitionsbildung nicht und der nominierte Premier verfehlt die absolute Mehrheit im Sejm, bekommt das Parlament für 14 Tage die Gelegenheit, alternative Kandidaten aufzustellen.

Kommt auch hier keine absolute Mehrheit zustande, kann der Präsident binnen weiteren 14 Tagen einen weiteren Premier ernennen, dem dann eine einfache Mehrheit reichen würde. Da könnte die Stunde von Donald Tusk schlagen. Führt all dies nicht zu einer handlungsfähigen Regierung, drohen Neuwahlen im nächsten Frühjahr. Es gibt kaum jemand in Polen, den diese Aussicht nach einem fürchterlich polarisierenden Wahlkampf begeistert. 

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