Schock! Verunsicherung, Angst, Selbstbezichtigung! Bei den Populisten hier in Deutschland dagegen unverhohlene Schadenfreude, nach dem Motto: „Das ist auch eure Niederlage“ – und mit „eure“ sind die Vertreter der wohlsituierten liberalen Mitte angesprochen. Trumps Triumph bewegt die Menschen in Deutschland, sie plagen sich mit verstörenden Fragen: Kommt diese ganze Grobheit und Niedertracht des Wahlkampfs, die einem Zivilisationsbruch glich, jetzt auch zu uns? Erobert die Internationale der Populisten heute die USA und morgen die ganze Welt, unsere eigene eingeschlossen?

In der Woche des akuten Wahl-Katers geht nun vieles durcheinander. Bei aller Kritik am Establishment, das die Stimmung hier wie dort erst ignoriert und dann falsch eingeschätzt hat: Deutschland ist nicht Amerika. Wir haben kein System, in dem vor allem Vertreter von Polit-Dynastien oder Superreiche Aussicht darauf haben, Präsident zu werden; kein System, in dem staatliche Umverteilung, wie sie in Deutschland über die direkten Steuern immer noch funktioniert, vielen als Ausgeburt der Hölle gilt. Deutsche Politiker sind auch volksnäher als eine Hillary Clinton, deren Nähe zum Finanzmarkt hierzulande undenkbar wäre. Es kann kein so furchtbares Land sein, in dem sich die regierenden Volksparteien auf Frank-Walter Steinmeier als Kandidat für Bellevue einigen können – nicht in erster Linie weil er einer von ihnen ist, sondern weil er beim Volk so beliebt ist. Ein Land, in dem der Bundeskanzlerin selbst die sie mit Hass verfolgenden Rechten nicht unterstellen können, dass sie korrupt sei – man traut Angela Merkel nicht einmal zu, sich eine Packung Tempo-Taschentücher geben zu lassen, ohne dafür zu bezahlen. Ein Land dazu, das den Bürgern viel bietet und trotz leider wachsender Ungleichheit noch eines der besten sozialen Systeme der Welt hat.

Da maßt sich ein Völkchen an, Volk zu sein. Ist es aber nicht

Im Wettrennen um die überzeugendste Erklärung, warum Donald Trump gewonnen hat, wird es keinen Sieger geben. Es ist nicht entschieden, ob dies das Ergebnis eines Kulturkampfes oder eines latenten Klassenkampfes war – wahrscheinlich ist, dass beides zusammenkam. Ganz sicher dagegen ist: Man kann knapp 60 Millionen Amerikaner und die vielen ähnlich motivierten Wähler in anderen Industrieländern nicht zu geistig, materiell und moralisch Minderbemittelten erklären. Es bleibt nur die Auseinandersetzung mit dem Erfolg des Populismus. Was wäre auch die Alternative? Einen kulturellen Bürgerkrieg anzuzetteln oder eine Mauer zwischen den vermeintlich Bekloppten und den angeblich Klugen zu errichten, eine, wie sie Donald Trump – jedenfalls noch im Wahlkampf – an der Grenze zu Mexiko aufbauen wollte?

Der Weckruf, den jetzt das Establishment auch für sich selbst will, ist angekommen. Es braucht Worte, Taten und vor allem eine Einsicht: Wir werden keinen Schritt vorankommen, wenn wir das Böse weiter externalisieren, also ausschließlich auf all jene projizieren, die nicht so denken, handeln und wählen wie das liberale Justemilieu – was sich exemplarisch an dem schönen, beflügelnden, aber auch anmaßenden Satz von Michelle Obama festmachen lässt, „When they go low, we go high“. Die Menschen sind anders, die meisten jedenfalls. Sie sind nicht nur gut und nicht nur böse. Sie haben Abgründe in sich, die sich einigermaßen im Zaum halten lassen, wenn nicht äußere Faktoren die Lebenskoordinaten durcheinanderwirbeln: sozialer Abstieg oder die Angst vor diesem, Kontrollverlust (etwa in der Konfrontation mit dem Fremden), chronische Nichtbeachtung durch jene, die das Sagen haben. Das kann man noch verstärken durch moralische Bevormundung oder eine autoritäre politische Korrektheit, die nicht als wünschenswerter Schutz vor Beleidigung und Herabsetzung dient, sondern zum Knebel wird.

Soll man sich jetzt also gemeinmachen mit Rassisten und Nazi-Verharmlosern, Verschwörungstheoretikern und Hetzern? Nein, im Gegenteil! Diese Leute gehören viel entschiedener bekämpft als bisher. Es ist eine Schande, dass Politiker so ungehindert angepöbelt werden können wie etwa beim Tag der Deutschen Einheit in Dresden, ohne dass offenbar auch nur die Personalien der Täter festgehalten werden. Es ist höchste Zeit, anonymes Bedrohen und Hassen im Netz konsequenter zu verfolgen. Die allermeisten Deutschen finden das nur noch abstoßend. Da maßt sich ein Völkchen an, Volk zu sein, was es nicht ist. Wer sich aber auf der anderen Seite darauf verlässt, im Besitz der Mehrheit zu sein – „die Populisten haben doch nur 20 Prozent“ –, hat sie fast schon verloren. Die Werte Toleranz, Offenheit, Kompromissfähigkeit sind nicht verhandelbar. Wer sich jedoch nur noch abgrenzt, der grenzt weiter aus. Wer jeden Gedanken daran ausschließt, selbst Teil des Problems zu sein, leidet an Arroganz. Es ist unendlich viel zu tun, aber das kann jetzt auch Ansporn sein.

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