Viel Zeit bleibt nicht für den Protest, vielleicht zehn Minuten, vielleicht aber auch nur acht. Darija steht heute Schmiere, sie kann sowieso nicht mitmachen, weil sie auf Radion aufpassen muss, ihren dreijährigen Sohn. Der spielt mit dem Plastikbagger, während sein Vater Maxim schon mal die Totenkopfmasken aus den Tüten kramt.

Es ist früh am Samstagmorgen, Kälte frisst sich durch Schuhsohlen, Wind fegt über das Marsfeld in Sankt Petersburg. Der Park liegt im Zentrum, nahe des Sommergartens, in der Nähe schlendern erste Touristen umher. In der Mitte der Anlage wurden Revolutionäre begraben, die vor 101 Jahren den Zaren stürzten. Seit der Sowjetzeit flackert ein Ehrenfeuer vor dem Grabmal, aber eigentlich erinnert man sich in Russland nicht so gern an die Revolutionen von 1917, die auch einmal angefangen hatten mit Protesten der Unzufriedenen.

Auch Nawalnyj hätte gegen Wladimir Putin keine Chance

Darija schlägt Alarm: Auf der anderen Seite des Parks stehen zwei „Awtosaki“, Gefangenenbusse der Polizei. Ein Zufall vielleicht, aber vielleicht sind die Autos doch wegen ihnen hier, den Aktivisten. Vielleicht wurden Telefone abgehört, Chats gelesen, vielleicht sitzt ein Verräter in ihren Reihen. Längst spürt keiner mehr, wo Bedrohung endet und die Paranoia beginnt. Allen scheint alles möglich in diesen Zeiten, in denen fast alles verboten wird, was aufmüpfig ist.

„Wesna“, die demokratische Jugendbewegung aus Petersburg, ist gern aufmüpfig. Wie viele junge Russen, die im vergangenen Jahr zu Tausenden überall im Land auf die Straßen zogen, wünschen sich ihre Anhänger ein anderes Russland. Eins ohne Wladimir Putin und seinen starken Staat, ohne Erziehung zum Patriotismus und Marschmusik. Ohne die Krim, die, so finden sie, zur Ukraine gehört. Sie wünschen sich ein Land, das so frei ist, dass es Anderssein erträgt. Sie sind nämlich auch das gern: anders.

Auf dem Marsfeld sind heute Jurij und Katja, die ihren Freund meist an der Hand hält. Jurij trägt eine dicke Brille, er kann nicht gut sehen und fühlt sich unsicher, wenn er in der Stadt unterwegs ist. Als Aktivist ist er weniger unsicher, er flog schon von der Universität, weil er zu laut für seine Rechte kämpfte. Außerdem ist Timofej da, ein junger Ingenieur mit Hipsterbart, der nach der Massendemonstration im Juni eine Woche im Gefängnis saß. Er ist heute auf seinem Kickboard unterwegs. So ist er schnell wieder weg, was ein Vorteil sein kann bei so einer Aktion. „Wir sollten uns jedenfalls beeilen“, sagt Maxim, Dozent an der Uni, der Älteste von allen. „Oder hat jemand Lust, sich verhaften zu lassen?“

Maxim und Darija, Russischlehrerin, haben sich die Aktion von heute ausgedacht, die aus einem Gruppenbild mit Totenkopfmasken besteht, als Protest gegen den Kult der Einheit, Einigkeit und Gleichheit. Alle sollen ja gleich denken – dabei sind doch nur die Toten gleich. Die Lebenden wollen doch eigensinnig sein und alle verschieden, und für Darija, Maxim und die anderen gilt das erst recht. „Tote kämpfen nicht!“ steht auf dem Schild der Studentin Katja. Die Lebenden aber schon.

Einfach ist das natürlich nicht in Russland. Je mehr kämpfen wollen, desto schwieriger wird es. Völlig unerwartet zogen im vergangenen Frühjahr Tausende zu Protesten auf die Straßen, unter ihnen viele Schüler, manche von ihnen gerade einmal 15 Jahre alt, erbost über den Reichtum der Eliten, ernüchtert von der eigenen Perspektivlosigkeit. Nicht nur in Moskau und Petersburg geschah das, sondern auch in der Provinz. Der Putin-Gegner und Antikorruptionskämpfer Alexej Nawalnyj hatte dazu aufgerufen. Auch für den 28. Januar sind wieder Demonstrationen geplant: gegen die Präsidentschaftswahlen im März, die bereits entschieden sind, weil Putin wieder gewinnen wird. Ernsthafte Konkurrenten hat er nicht. Auch Nawalnyj hätte gegen ihn keine Chance, allein schon deshalb, weil das Staatsfernsehen nur Putin propagiert. Doch zur Vorsicht ließ der Kreml Nawalnyj zu den Wahlen gar nicht erst zu.

Der Name „Frühling“ war als versöhnliches Versprechen gedacht

Der Kreml reagiert mit Repressionen auf die Proteste. Es gibt zwar keine Erdbeben mehr wie in den vergangenen Jahren, keine Schauprozesse wie früher gegen den Unternehmer Michail Chodorkowskij oder die jungen Frauen von Pussy Riot. Nach den Massenprotesten im Winter 2011/2012 kam noch ein Dutzend Demonstranten für Jahre hinter Gitter. Heute landen dagegen Hunderte für ein paar Tage im Gefängnis, müssen Strafen zahlen, und alles potenziert sich, wenn sie noch einmal erwischt werden. Statt der großen Erdbeben zittert die Erde nun überall ständig ein bisschen, aber laufen kann man so erst recht nicht.

Die Kunstaktionen von Maxim und Dari ja sind immer etwas düster, manchmal stehen alle nur mit Schildern herum, auf denen „Alles wird schlimmer“ steht. Das Paar gehört nicht zu Wesna, aber bei Aktionen schließen sie sich oft zusammen. Einmal bügelte Darija in einem Kulturhaus Äpfel, aus Protest gegen die Vernichtung von Lebensmitteln. Auf dem Marsfeld schlendern jetzt die Polizisten in ihre Richtung. Zeit, abzuhauen, in alle Himmelsrichtungen, und möglichst schnell.

Der harte Kern der Gruppe Wesna lebt in einer Wohngemeinschaft im Zentrum der Stadt, in einem grauen Wohnhaus im fünften Stock. Im Flur stehen ein paar Flaggen herum. Fünf Leute teilen sich drei Zimmer. Die meisten kommen aus anderen Städten. Artjom, der gerade versucht, seinem Wehrdienst auszuweichen, stammt sogar aus Wladiwostok.

Wesna bedeutet Frühling. Heute weiß keiner mehr, wem der Name vor Jahren einfiel. Dabei sind sie nicht viele, nur etwa 40 Aktivisten in ihrer Heimatstadt, landesweit noch ein paar weitere Dutzend. Der Protest ist keine Massenbewegung, selbst in Petersburg nicht, der liberalsten Stadt Russlands. Auch deshalb nicht, weil er jeden aus dem normalen Leben direkt in eine Gefahrenzone voller Dauerärger katapultiert, in das aufwendige Klein-Klein juristischer Konflikte. „Du gehst zum Protest“, lästern Putin-Gegner, die lieber nicht protestieren, „und dann brauchst du 15 Aktivisten, die dir helfen, aus dem Ärger wieder rauszukommen.“ Der Name „Frühling“ war jedenfalls als versöhnliches Versprechen gedacht. Weil ja auf jeden Winter ein Tauwetter folgt. Weil der Frühling unvermeidlich ist, so steht es sogar auf einem Plakat. Und weil der Gedanke daran auch im Winter wärmt. In der WG-Küche zum Beispiel.

Am Abend ist dort spontane Versammlung, sechs Wesna-Leute sitzen schon einen Tag lang in Moskau auf einer Polizeistation fest. Alle sind etwas nervös. Vor allem weil niemand so richtig verstehen kann, was eigentlich passiert ist. Anatasija, Kirill und die anderen hatten sich eine Vorlesung angehört und wollten in der Mittagspause ein Sandwich holen. Danach schickten sie Nachrichten aus einem Polizeiwagen. Dann riss der Kontakt ab.

Auf einer Schwulen- und Lesbendemo flogen Steine

Bogdan, einer der Gründer von Wesna, sitzt am Computer und managt die Chats. Er ist ein ernster junger Mann, der Politik studiert hat und nebenbei für einen Abgeordneten im Stadtparlament arbeitet. Die Freude am Widerstand gaben ihm die Eltern mit. Seine Großmutter lebt in der Ukraine und nahm ihn als Teenager mit auf den Majdan. Danach engagierte er sich bei der liberalen Partei Jabloko. Die kam ihm irgendwann eng vor, festgefahren in ihrer Nische. Der Protest mit den Bildern, die aus den sozialen Netzen hinaus in die Welt gehen, gefiel ihm viel besser.

Verzweifelt ist dieser Protest natürlich auch. Selbst Plakataktionen sind ohne Anmeldung nur erlaubt, wenn der Abstand zwischen den Demonstranten mindestens 50 Meter beträgt. „Wir hatten uns deshalb eigentlich überlegt, das nicht mehr zu machen“, sagt Bogdan. Für die Verhafteten haben sie dennoch schnell Solidaritätsplakate gemalt. Bogdan sucht jetzt nur noch Freiwillige, die sich am nächsten Morgen in die Kälte stellen.

„Immerhin hat sich die Atmosphäre geändert“, sagt Mascha, 20, die ihre Haare meist rosa trägt und so schnell redet, dass die Worte oft übereinanderpurzeln. Nach der Krim-Annexion 2014 hatte Wesna nämlich auch Ärger mit Passanten. Viele waren glühende Patrioten. Heute fänden viele die Aktionen gut. „Dafür lässt jetzt die Polizei weniger zu“, sagt sie.

Wie viele bei Wesna stieß sie zur Gruppe, weil sie nicht so richtig ins Putin-Russland passte, was ihr auffiel, als sie sich in ihrer Heimatstadt am Polarkreis mit 16 Jahren in ein Mädchen verliebte. Damals verabschiedete das Parlament gerade die Gesetze gegen „homosexuelle Propaganda“. Murmansk schien ihr deshalb nur wenig geeignet für die Suche nach Glück. Also flüchtete Mascha nach Petersburg. Leicht war es auch dort nicht. Auf ihrer ersten Schwulen- und Lesbendemo flogen Steine. Dann lernte sie Wesna kennen. „Auf einmal traf ich Leute, die so dachten wie ich“, sagt Mascha.

Georgij zum Beispiel, den seine Eltern verstießen, weil er schwul ist. Lisa, die zu Genderfragen forscht. Artjom, der Jüngste, der Koch werden will und auf seiner Berufsschule dauernd zur Direktorin muss, weil er mit Nawalnyj-Stickern herumläuft. Einmal musste ihn seine Mutter aus der Polizeistation abholen, weil er mitten auf dem Newskij Prospekt in einer Aktion eine Leiche spielte. Dauernd streiten er und seine Mutter nun über die Politik. Weil sie nicht verstehen kann, warum er sich das Leben so schwer macht.

„Ich verstehe nicht warum man euren Nawalnyj nicht einfach abknallt.“

Konflikte mit den Eltern haben die meisten, und viele zeigen ihnen deshalb Nawalnyjs Filme über den Reichtum der Elite. Wesna unterstützt Nawalnyj, aber begeistert ist trotzdem nicht jeder, die meisten trauen auch ihm nicht so recht über den Weg. Aber einen anderen gebe es jetzt eben nicht. Nawalnyjs Recherchen überraschen die Eltern meist nicht. „Keiner kommt an die Macht und klaut dann nicht!“, sagen sie.

Nach zwei Tagen sind die Aktivisten aus Moskau wieder da. Ein absurder Zufall sei das gewesen, sagt die Studentin Anastasija, 18. Offenbar hatte die Polizei an diesem Tag mit Protesten gerechnet. Die Gruppe junger Leute, einer davon mit Nawalnyj-Shirt, erregte gleich ihren Verdacht. Im Protokoll stand später, sie hätten Losungen gebrüllt und Widerstand geleistet.

Anastasija kommen die beiden Tage im Gefängnis wie ein surrealer Traum vor, eine sinnlose Abfolge aus Demütigungen. Die Polizisten kassierten Geld, Bücher, sogar die Tampons der Mädchen, nachts durften sie nicht auf die Toilette, es gab anfangs kein Wasser, kein Essen, nicht einmal Decken. „Ich verstehe nicht“, sagte einer der Polizisten, „warum man euren Nawalnyj nicht einfach abknallt.“

Anastasija will natürlich trotzdem weitermachen. „Ich kann nicht verstehen“, sagt sie, „wieso jemand dieses Regime unterstützt, das gegen seine eigenen Bürger ist.“ Vielleicht will sie Abgeordnete werden, in einem Stadtparlament, das machen jetzt einige junge Liberale in Moskau. Weil ja doch irgendwann der Frühling kommt. Damit irgendwann der Frühling kommt. Auch wenn es jetzt noch so kalt ist.

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