Büsra kann den Text gut lesen, die Mutter hält ihr das Handy ja direkt vors Gesicht, aber Büsra begreift trotzdem kein Wort. „Verstehst du nicht“, schreit die Mutter. „Sprengstoff im Rucksack“ und „Anschlag auf Sikh-Tempel“ steht da auf dem Display. Büsra sieht einen Artikel, darunter ein Fahndungsfoto, von einer Überwachungskamera aufgenommen. Es ist Yusuf. Büsras kleiner Bruder. In seinem karierten Hemd, die Kappe ins Gesicht gezogen, den blauen Rucksack der Marke „Russel Athletic“ auf dem Rücken. „Yusuf“, flüstert Büsra.
Erst als sich alle unten versammelt haben, ein Stockwerk tiefer, bei den Großeltern, die Mutter, der Vater, Tante, Onkel, Oma, Opa, lässt dieses Gefühl der Betäubung nach. Opa schreit, Oma weint, der Vater läuft im Kreis herum, leichenblass. Yusuf sitzt zwischen ihnen auf dem Sofa, er hält sein Handy in der Hand, starrt, tippt, starrt. Auch die Mutter weint, streicht ihm über den Arm, sagt leise: „Was hast du gemacht, Yusuf?“
Bombenanschlag auf Sikh-Tempel
Drei Tage zuvor, am 16. April 2016, hat Yusuf auf den Knopf gedrückt und die Bombe hochgejagt. In einem Sikh-Tempel im Norden der Stadt Essen, in dem die indische Gemeinde gerade Hochzeit feierte. „Kuffar“ sind das, Ungläubige und damit Feinde des Islam, so hatten Yusuf und seine Freunde entschieden. Es war schon Abend, als die Druckwelle die Türe des Tempels aus den Rahmen riss, die Fenster zum Bersten brachte und Splitter wie Geschosse zehn Meter in den Gebetsraum schnellten. Kurze Stille, dann Schreie der Menschen. Verletzte. Der Priester hatte Brüche und schwere Verbrennungen, er kam nur knapp mit dem Leben davon. Es war der erste Terroranschlag des Islamischen Staates in Deutschland.
Gut sieben Monate später, sitzt Büsra in der Wohnküche der Familie in Gelsenkirchen-Ückendorf, im Dachgeschoss eines Altbaus, etwa zehn Kilometer Luftlinie von dem Tempel entfernt. Früher haben sie sich hier um den weißen Tisch versammelt, gelacht, zu Abend gegessen oder gefrühstückt, ehe die beiden Kinder zur Schule gingen. Yusufs Platz war neben Büsra, der Platz bleibt jetzt leer. Aber Yusuf ist trotzdem noch da. Büsra sagt, es vergeht keine Stunde an diesem Tisch, in der Yusuf nicht Thema ist.
Am Freitag beginnt in Essen der Prozess gegen Yusuf und zwei seiner Freunde, Mohamad und Tolga. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen versuchten Mord in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung vor. Sie spricht von „Heimtücke“ und „niedrigen Beweggründen“. Der Prozess wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt. Denn Yusuf, Mohammed und Tolga waren am Tattag gerade 16 Jahre alt.
Büsra fragt sich, ob man Yusuf hätte stoppen können
Yusuf und „versuchter Mord“. Büsra fragt sich oft, wie es so weit kommen konnte. Als Kinder hingen die Geschwister ständig zusammen, ein Jahr nur liegt zwischen ihnen. Die Großeltern waren vor 50 Jahren aus der Türkei gekommen, der Gemüseladen der Eltern lief. Alles gut.
Büsra ist 18, aber bis heute ein richtiges Mädchen. In ihrem Zimmer hat sie eine Rosentapete, die Schminkutensilien liegen geordnet im Regal. Und Yusuf war immer ein richtiger Junge, sagt Büsra. So viel Blödsinn im Kopf. Yusuf, der Quatschkopf. Früher hat Büsra mitgemacht. Die Daunen mit ihm aus den Kissen geschüttelt und sie überall verteilt. Man konnte Yusuf nicht böse sein. Er war so lustig, zog immer die Aufmerksamkeit auf sich. Büsra brauchte das nicht, sagt sie. Es blieb ja auch kaum Raum, den brauchte Yusuf für sich allein. Vor allem, wenn es Ärger gab, weil Yusuf wieder „Mist“ gebaut, den Unterricht gestört oder mit Pfefferspray herumgesprüht hatte. Er prahlte gern, wusste so oft alles mal wieder besser. Manchmal war er Büsra peinlich.
Auch wie er zu Allah gefunden hat, war typisch Yusuf. Auf einen Schlag. Yusuf hatte Liebeskummer, seinen ersten, erinnert sich Büsra. Tagelang lag er auf dem Bett und hörte Gangsta-Rap. Doch als Büsra und die Eltern eines Abends nach Hause kamen, war etwas passiert. Keine Musik mehr. Yusuf betete. Ausgerechnet Yusuf! Gleich fünf Tabakköpfe hatte er an diesem Tag durch seine Wasserpfeife gezogen. Einen nach dem anderen. Und als ihm so schlecht war, dass er dachte, er müsse sterben, versprach er Allah, wenn er nicht sterbe, werde er ihm ewig dienen. Yusuf starb nicht.
Von da an betete Yusuf fünfmal am Tag. In Büsras Augen wurde der kleine Bruder vernünftig. Endlich. Die Mutter erzählte ihm von Pierre Vogel, einem deutschsprachigen Prediger, einem Salafisten, der vor Jahren mal Gelsenkirchen besucht hatte. Sie und ihr Mann waren tolerant in Sachen Religion. Jeder, wie er will, sagten sie. Und dass Pierre Vogel schon extrem sei, aber auch kluge Sachen sage.
Irgendwie hat er trotzdem was mit Yusuf gemacht, sagt Büsra. Sie glaubt, Yusuf habe nach einer Weile einfach alle Videos von Pierre Vogel durchgehabt, aber da habe er dann schon mehr gewollt, „da musste etwas Neues her“.
Yusuf radikalisierte sich schnell
Ein paar Wochen nach der Sache mit der Wasserpfeife begann er, unentwegt Suren zu rezitieren, wenn sie alle zusammen am Tisch saßen. Anfangs auf Deutsch, später auf Arabisch, Büsra verdrehte nur noch die Augen. Ganze Nachmittage saß er vor dem Rechner. Er begann, Korane in der Innenstadt zu verteilen, für das inzwischen verbotene „Lies“-Projekt der Salafisten. Und er redete kaum noch mit seiner Schwester. Er sagte: „Lern erst mal den Koran, dann kannst du mich wieder ansprechen.“ Auf seinem Bildschirm flimmerten jetzt Iraker und Saudis, Büsra hörte, dass manche richtig schrien. Und auch Yusuf selbst wurde immer strenger.
Er schickte Büsra Nachrichten aufs Handy, eine Muslimin müsse Kopftuch tragen. Büsra wollte damals aber kein Kopftuch tragen. Yusuf kam auch einfach in ihr Zimmer, forderte: „Mach die Musik aus“, die sei haram, schmutzig. Er wollte ihr sogar verbieten, auf eine Hochzeit zu gehen, weil da Männer und Frauen gemeinsam tanzten. Unmissverständlich machte er ihr klar, „du kommst in die Hölle, wenn du so weitermachst“.
Büsra ging jeden Freitag in die Moschee, aber was ihr Bruder da machte, das ging gar nicht. Auch die Eltern fanden, es sei zu viel des Guten. Mutter und Schwester ließen Yusuf dennoch einfach reden. Um des Friedens willen. Und der Vater arbeitete inzwischen als Lieferant, am Tag war er kaum da.
Islamistische Propaganda auf dem Schulhof
Die Stimmung kippte, als Yusuf vom Unterricht suspendiert wurde. Der Schulleiter hatte monatelang Yusufs Verhalten dokumentiert. Etwa: „Juni 2014 … Schüler berichten, er versammle … auf dem Schulhof und mache dort islamistische ‚Propaganda‘.“ Oder: „27.08.2014: Der Schüler Yusuf äußert immer wieder gegenüber Schülerinnen, dass er sie steinigen würde.“ Oder: „20.11.2014: Eine Schülerin sagt aus: ,Am Ende habe ich … erzählt, … dass ich … nicht richtig finde, was die Palästinenser machen (Israel-Konflikt). Plötzlich ist der Yusuf aufgestanden und hat gesagt: Wer bist du? Ich breche dir dein Genick!'“
Dazu dann die Sache mit Serap. Büsra und die Eltern hatten das Mädchen noch gar nicht kennengelernt, als Yusuf ihnen erklärte, dass er Serap heiraten werde. Büsra hielt das für einen Witz. Yusuf war gerade einmal 15. Die Eltern verboten es. Zu Besuch kam Serap eines Tages trotzdem. Wie ein Geist der Dunkelheit stand sie im Flur, vollverschleiert, nicht einmal ihre Augen konnte Büsra sehen. Sie war zu schockiert, um laut zu lachen. Der Vater verschwand im Wohnzimmer, er konnte den Anblick nicht ertragen. Die Mutter beschwichtigte, sagte, das sei nur eine Phase.
Ihr Zusammenbruch ein paar Wochen später war dafür umso schlimmer. An jenem Tag hatte die Familie Yusuf nicht erreicht. Büsra saß mit der Mutter nebenan bei Onkel und Tante und sah das türkische „Big Brother“, als Yusuf meldete, er sei wieder zu Hause. Sofort eilte die Mutter nach nebenan. Büsra lief in den Hausflur, sie hörte, wie Gegenstände durch Yusufs Zimmer flogen. Opa und Oma waren von dem Gezeter wach geworden, sie standen vor der Tür – und erfuhren so, dass Yusuf jetzt verheiratet war. Ein Konvertit, 23 Jahre alt, hatte ihn und Serap feierlich und nach islamischem Recht in einer Solinger Moschee vermählt.
Büsra sitzt am weißen Küchentisch in Gelsenkirchen-Ückendorf. „Vielleicht“, sagt sie, „wäre es gut gewesen, ihn noch mehr spüren zu lassen, wo unsere Grenzen sind.“ Aber als die Eltern sich an Psychologen wandten, als sie Rat suchten in der Moschee, da war es bereits zu spät.
Yusuf lernte neue Freunde kennen
Es muss um die Weihnachtszeit 2015 gewesen sein, dass Yusuf diese neuen Freunde kennengelernt hat. Zum Beispiel Mohamad, Tolga, Erva, Talha oder auch Hilmi, die meisten wohnten in der Nähe. Yusuf tat jetzt wichtig. Er war „Emir“ der WhatsappGruppe „Unterstützer des islamischen Kalifats“. Manchmal kamen die Jungs zu ihnen nach Hause. Wenn sie klingelten, sollten Mutter und Büsra in der Küche verschwinden. Keiner durfte Yusufs Zimmer betreten. Ein Emir ist nun mal Herr im Haus. Die Schwester fand das albern. Aber sie tat, was Yusuf wollte, um des Friedens willen. Niemand in der Familie wusste, was die Jungen besprachen.
Es wusste auch niemand, wer der Inhaber des Reisebüros in Duisburg-Rheinhausen war, zu dem Yusuf und die Freunde nun fuhren, um Arabisch zu lernen. Es handelte sich um Hasan Celenk, einen Türken mit langem grauen Bart, der seit Monaten unter Beobachtung der Behörden stand. Inzwischen weiß man von V-Männern aus der Salafistenszene, was er noch bis vor Kurzem in seinem Hinterzimmer predigte: Die Teenager sollten sich „von Ungläubigen fernhalten“. Und auch von Muslimen, „die nicht so denken wie wir“.
Über Celenk kamen die Freunde in Kontakt mit Muslimen, die sich in einer Dortmunder Wohnung trafen. Dort waren noch mehr Brüder, die alle dachten wie sie. Der inzwischen inhaftierte Abu Abdurrahman, 36, zeigte den Jungen Hinrichtungsvideos. Drei Wochen vor ihrem Anschlag besuchten die Jungen schließlich in Hildesheim „Abu Walaa“ alias Ahmad Abdulaziz A., den Chefrekrutierer der IS-Terrormiliz in Deutschland. Auch er wurde vor drei Wochen festgenommen. Vorläufig.
Abu Walaa, der „Prediger ohne Gesicht“
Keiner aus Yusufs Familie kannte Abu Walaa, den „Prediger ohne Gesicht“. Yusuf hatte ein Riesentheater gemacht, erinnert sich Büsra, er wollte unbedingt in diese Hildesheimer Moschee. Die Eltern schickten Oma und Opa mit. Aber die bekamen nicht mit, dass Yusuf von einem Mann befragt wurde, zum Koran und dazu, wie er zum IS stehe. Und sie folgten auch nicht, als dieser Mann Yusuf in ein Nebenzimmer führte, wo Abu Walaa persönlich mit ihm sprach. Yusuf erinnerte sich später, dass Abu Walaa gesagt habe: „Geh nicht nach Syrien. Der Kampf ist verloren. Wir brauchen euch Kämpfer hier.“
Der Tempel sollte nicht das einzige Anschlagsziel bleiben, das wird die Polizei später feststellen. Schon im Januar schrieb Yusuf in die Gruppe, „Ich werde paar Sachen (…) planen und wir werden langsam aktiver“. Als Yusuf und seine Freunde irgendwann in diesen Wochen sich fragten, ob sie wirklich eine Bombe werfen sollten, riet ihnen ein junger Mann namens Mikayil, den sie bei Hasan Celenk kennengelernt hatten, „kleiner“ anzufangen, um später etwas „Größeres“ zu machen. Sie bestellten ein Kilo Magnesiumpulver, ein Kilo Schwefel und 250 Gramm Aluminium bei Amazon und mischten alles zusammen.
An jenem Tag, als Opa schrie, Papa im Kreis herumlief und Oma weinte, an jenem dritten Tag nach dem Anschlag also, tippte Yusuf in sein Handy. Es ging um Pakete, die noch nicht angekommen waren.
Yusuf schrieb: „Stornier sofort“. Mohamad: „OK hab storniert jetzt kommt nur noch 1.5 kg Sack mit Kugel“ . Yusuf: „Kommt hier dann können wir uns zusammen stellen“. Mohamad: „Wenn die fragen woher die (Bombe) ist dann was willst du sagen?“ Yusuf: „Ich weiß nicht“. Mohamad: „Sag dass du die von jemand bekommen hast.“ Yusuf: „Lass die Wahrheit sagen.“
Am nächsten Abend, gegen 21 Uhr, war es so weit. Die Familie fuhr Yusuf zur Polizei. „Es tat so weh, ihn dazulassen“, erinnert sich Büsra.
Büsra trägt inzwischen Kopftuch
Sie trägt inzwischen Kopftuch. „Nicht wegen Yusuf, ich hab das selbst entschieden.“ Der Islam sei eine gute Religion, sagt sie. „Das hat Yusuf nur noch nicht verstanden.“ Bei ihrem ersten Besuch im Gefängnis musste Büsra das Tuch abnehmen, „damit die Aufseherin mich besser durchsuchen kann“. Yusuf freute sich, sie zu sehen. Doch selbst wenn Büsra es gekonnt hätte – sie hätte ihn nicht mit nach Hause genommen. „Er soll da drin bleiben“, sagt sie. „Bis er erwachsen ist. Danach können wir hoffentlich wieder miteinander reden.“
Mehr als fünf Jahre Gefängnis soll die Staatsanwaltschaft fordern. Yusufs Anwalt, Burkhard Benecken, möchte sich nicht äußern. Nur so viel: Yusuf wird aussagen. Mithelfen. Darüber ist Büsra froh.
Vor drei Tagen hat Yusuf in einem anderen Verfahren die erste Aussage gemacht. Gegen einen Freund, der bei einer Probesprengung vor dem Anschlag dabei war. Erva. Der hatte Yusuf im Gefängnis einen Brief zugeschmuggelt und war damit aufgeflogen. Erva hatte noch nicht verstanden, dass Yusuf kein „Emir“ mehr ist. „Akhi“ (Bruder), hat er geschrieben. „Eine Frage … Darf man gezielt auch Kinder töten? z.B. Ich arbeite … mit meinem Eiswagen, und verkaufe Eis an viele Kinder. Dürfte ich nach Schariah das Eis mit Arsen … würzen … Anschließend mit den Eiswagen eine Istishadi Amaliya (Selbstmordattentat) in einem Kindergarten machen?“
Büsra erstarrt, als sie davon erfährt. Dann sagt sie: „Es ist gut so, wie es jetzt ist. Einmal muss Schluss sein mit dem Wahnsinn.“
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