Italien steuert auf den Abgrund zu. Oder doch nicht? Kurz vor dem Referendum am Sonntag gehen die Meinungen darüber weit auseinander, welche Folgen das Votum haben könnte. Bei der Abstimmung geht es um eine Parlamentsreform – aber eigentlich um sehr viel mehr.

Sollten die Bürger mehrheitlich mit „No“ stimmen, also gegen die Reform, droht eine düstere Zukunft. So sieht es die britische Wirtschaftszeitung „Financial Times“. Zuerst trifft es dann die älteste Bank der Welt, die „Monte dei Paschi di Siena“. Schnell reißt der Strudel an den Finanzmärkten weitere Geldhäuser mit, dann schlittert ganz Italien in die Krise, mit unabsehbaren Folgen für Europa.

Für das britische Wirtschaftsmagazin „Economist“ ist das Gegenteil richtig. Ein „No“ sei gut für Italien, schreibt das Blatt. Ministerpräsident Matteo Renzi macht dann den Weg frei für eine Technokraten-Regierung. Die packt jene Reformen an, die Italien dringender braucht als Renzis Neuordnung politischer Zuständigkeiten: den Abbau der Bürokratie, zum Beispiel, wie den Umbau des Justizwesens. Sollte sich das politische Erdbeben in Rom wider Erwarten doch auswachsen und zum Kollaps des Euro führen, dann wäre auch das nur ein Indiz dafür, dass die Währungsunion so fragil sei, dass ihr Zerfall so oder so anstehe.

Das sieht man in Berlin wiederum ganz anders. Selbst Finanzminister Wolfgang Schäuble, Dauernörgler über Roms lockere Finanzpolitik, sagt jetzt: „Wäre ich Italiener, würde ich für Renzi votieren, auch wenn er nicht zu meiner politischen Familie gehört.“ Außenminister Frank-Walter Steinmeier, Mitglied von Renzis sozialdemokratischer Polit-Familie, ist sogar „sicher, dass Renzi erfolgreich sein wird“.

Das ist eine gewagte Prognose. Oder auch nur bange Hoffnung. Denn bei den letzten Umfragen vor zwei Wochen lagen die „No“-Voten vorn. Aktuellere Zahlen gibt es nicht, in Italien herrscht 14 Tage vor Wahlen oder Referenden per Gesetz eine Umfragen-Stille. So können alle nur spekulieren, wie sich die 51 Millionen wahlberechtigten Italiener – davon über vier Millionen aus dem Ausland – am Sonntag entscheiden werden. Die Wahllokale schließen um 23 Uhr, irgendwann in der Nacht ist dann klar, ob Renzi gewonnen („Si“) oder verloren („No“) hat.

Nur eines weiß man schon jetzt: Den meisten Wählern sind die Details der komplizierten Verfassungsänderung, unter anderem zur Zusammensetzung und der Kompetenzverteilung der zwei Kammern des römischen Parlaments, ziemlich egal. Wenn sie ihnen nicht gänzlich unbekannt sind.

Renzi spielt Risiko

Es geht einfach um „Ja“ oder „Nein“ zu Matteo Renzi. Und das hat der genauso gewollt. Er ist ein Spieler: Wenn er gewinnt, ist er König. Wenn er verliert, geht er eben. Zumindest vorübergehend.

So hat er auch gekämpft: Matteo gegen den Rest der Welt. Die Konservativen, das Großkapital, die Mächtigen in Italien wie in Europa seien gegen ihn, sagte er. Die wollten eine lammfromme Technokraten-Regierung, die sie nach Belieben lenken können.

Aber mit dem „Si“, also mit ihm, werde Italien „zum stabilsten Land in Europa“, und er werde dann mit den europäischen Nordlichtern Tacheles reden. Dass nicht nur Berlins böser Finanzminister Schäuble, sondern viele weitere Mächtige wie EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, Noch-US-Präsident Barack Obama und Fiat-Boss Sergio Marchionne für ihn werben, lässt er lieber unerwähnt. Dass mit dem „Si“ kein einziger Euro vom italienischen Schuldenberg verschwindet und Italien keinen Deut stabiler wird, ist ihm auch egal.

„Wandern Sie besser aus!“

Die Gegenseite verzichtete ebenfalls weitgehend auf sachliche Argumente, machte nur Stimmung. Sie verortete Renzi bei der allseits verhassten „politischen Kaste“ und beschwor das „Ende der Demokratie“, falls das „Si“ gewinne. „Dann wäre es besser auszuwandern“, empfahl Silvio Berlusconi via TV.

Selbst ein Parteikollege wie Pier Luigi Bersani vom linken Parteiflügel der Renzi-Partei PD sagt, der Premier verspreche „Esel, die fliegen können“. Offen plädiert er dafür, gegen die Reform zu stimmen. Auch bei einem Sieg der Renzi-Gegner blieben die Mehrheitsverhältnisse im Parlament ja unverändert. Selbst wenn der Ministerpräsident zurücktrete, könne dessen Partei einfach weiter regieren. Schlimmer sei für ihn der andere Fall: Bei einem Sieg des „Si“ – also pro-Renzi – fürchtet Bersani, werde sein Parteifreund das Popularitätshoch nutzen und Neuwahlen ansteuern. Dann bekäme Italien unter Renzi eine „Führer-Regierung“.

Die Regierungspartei PD („Partito Democratico“) ist offensichtlich tief gespalten. Die politische und europaskeptische Konkurrenz hält sich bereit: Die ausländerfeindlichen Rechtsnationalisten der „Lega Nord“ wollen im Frühjahr Neuwahlen erzwingen. Und auch der unberechenbare Gegen-alles-Rigorist Beppe Grillo steht bereit, die Macht zu übernehmen, wenn Renzi geht und die verbleibende Regierung scheitert. Bei den jüngsten Bürgermeisterwahlen in Rom hat die Kandidatin seiner „Fünf-Sterne-Bewegung“ im Stichentscheid fast 70 Prozent geholt.

Daher wird in Italien nicht so bald Ruhe einkehren, egal, wer das Referendum gewinnt. Ex-Regierungschef und Renzi-Parteifreund Romano Prodi warnt, so oder so werde eine „Zeit unnützer und schädlicher Turbulenzen“ anbrechen.


Zusammengefasst: Italiens Regierungschef Matteo Renzi hat mit dem Verfassungsreferendum seine politische Zukunft zur Abstimmung gestellt. Viele Bürger kennen die Details der angestrebten Parlamentsreform nicht, für sie geht es nur um ein „Ja oder „Nein“ zu Renzi. Vor der Abstimmung haben alle Parteien wenig sachlich argumentiert, je nach politischer Einstellung droht mit dem „Si“ oder dem „No“ der Untergang. In jedem Fall dürften Italien Turbulenzen bevorstehen, die auch auf Europa Auswirkungen haben. Denn EU-skeptische Populisten drohen mächtiger zu werden.

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