Das Stühlerücken in Großbritannien erreicht neue Ausmaße. Mit dem Rücktritt von Premierministerin Liz Truss versinkt das Land endgültig im politischen Chaos. Das Rennen um die Nachfolge ist eröffnet – schon wieder.

Was auch immer in den folgenden Tagen und Wochen passiert: Ihren Platz in den Geschichtsbüchern hat Liz Truss sicher. Kein britischer Premier war kürzer im Amt. Mit ihrem Rücktritt am Donnerstag ist das Vereinigte Königreich erneut führungslos – wenn auch nicht ganz. Wie die 47-Jährige erklärte, soll die Wahl ihres parteiinternen Nachfolgers – und damit des neuen Premierministers – bereits kommende Woche erfolgen. Bis zum 31. Oktober wollen die Konservativen dann einen neuen Regierungschef ins Amt heben, erklärte Graham Brady, der Vorsitzende des mächtigen 1922-Komitees der Konservativen Fraktion im Unterhaus.

Bis ihr Nachfolger formell übernehme und von König Charles offiziell ernannt wird, wolle sie die Geschäfte weiterführen, kündigte Truss an. Doch was folgt auf die Kurzzeit-Regierende? Ein Überblick:

Könnte es zu Neuwahlen kommen?

Dass sich die Opposition nach den skandalösen Ereignissen der vergangenen Tage und Wochen dagegen sträubt, erneut ein Tory-Mitglied an der Spitze zu sehen, ist wenig überraschend. So forderte der Vorsitzende der Labour-Partei, Keir Starmer, nach der Rücktrittsverkündung sofortige Parlamentswahlen. Dem schloss sich auch die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon an: „Eine Neuwahl ist nun ein demokratischer Imperativ“, schrieb sie auf Twitter.

So sehr die Tory-Gegner auch eine Tabula rasa herbeisehnen, vorgesehen ist sie nach britischem Recht eigentlich nicht. Die Parlamentswahlen, bei denen alle 650 Abgeordnete des Unterhauses neu gewählt werden, werden alle fünf Jahre abgehalten – das wäre plangemäß im Januar 2025. Die Entscheidung, die Wahlen vorzuziehen, liegt beim amtierenden Premier selbst. Zwar trat 2011 eine Gesetz in Kraft, schreibt die BBC, das dieses Privileg den Abgeordneten des Unterhauses zuschrieb – von denen zwei Drittel hätten dafür stimmen müssen, doch ist diese  Regelung inzwischen wieder gekippt worden. Die Tories stellten nach ihrem Wahlsieg 2019 die Befugnisse des Premiers für diesen Fall wieder her. 

STERN PAID Großbritannien: Liz Truss und Brexit 14.46

Das bedeutet: Truss selbst müsste bei König Charles die Auflösung des Parlaments beantragen. Da die darauf folgenden Wahlen jedoch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zu Gunsten der Konservativen ausfallen würden, ist das mehr als unwahrscheinlich.

Rückkehr des Boris Johnson?

Folglich dürften die Tories, wie schon nach dem Rücktritt von Boris Johnson, den Premier unter sich ausklüngeln. Apropos: Auch Johnson wird als potenzieller Truss-Nachfolger gehandelt. „Ich habe erfahren, dass Boris Johnson bei der Wahl zur Tory-Führung kandidiert. Er sondiert die Lage, ist aber der Meinung, dass es sich um eine Angelegenheit von nationalem Interesse handelt“, twittert Steven Swinford von der Londoner „Times“. 

In jedem Fall hoffen die Konservativen, „dass sie einen Namen aus ihren Reihen ausgraben können, um einen Wettbewerb unter den konservativen Parteimitgliedern zu vermeiden“, so die BBC weiter. Sollte ihnen das nicht gelingen, und es kommt zu parteiinternen Machtkämpfen, könnte das Land noch Monate auf einen neuen Premier warten.

Sunak, Wallace, Mordaunt? Die aussichtsreichsten Kandidaten

Abgesehen davon, gilt als aussichtsreicher Kandidat für die Truss-Nachfolge Ex-Finanzminister Rishi Sunak. Der 42-Jährige war beim letzten Rennen um die Tory-Führung auf dem zweiten Platz gelandet. Die versprochenen Steuersenkungen, die Truss letztlich das Amt kosteten, bezeichnete Sunak schon damals als „Märchenwirtschaft“. Ein Abgeordneter, der ihn im Rennen um die Parteiführung unterstützte, sagte der Zeitung „Telegraph“: „Alles, was er gesagt hat, ist eingetreten“.

Auch Penny Mordaunt, die Vorsitzende des Unterhauses, kann sich wohl Chancen ausrechnen. Die ehemalige-Verteidigungsministerin sorgte Anfang des Monats für Aufsehen, als sie die Kommunikation der Partei für „beschissen“ erklärte. Wie „Sky News“ aus parteiinternen Whatsapp-Nachrichten erfahren haben will, wurden sie und Sunak bereits von einem Abgeordneten aufgefordert, das Amt zu übernehmen. 

Queen Elizabeth II Ereignisse Regierungszeit 20.15

Womöglich könnte sich auch der aktuelle Verteidigungsminister Ben Wallace zum Premier aufschwingen. Der ehemalige Soldat, so „Sky News“, gilt wegen seiner Rolle bei der Unterstützung für die Ukraine gemeinhin als beliebt. Beim letzten Rennen um den Parteivorsitz blieb er lange neutral, bis er sich am Ende doch noch auf Truss‘ Seite schlug. Allerdings erklärte Wallace erst am Dienstag, dass er im Fall der Fälle auf seinem Posten bleiben wolle. 

Und dann wäre da natürlich noch Suella Braverman – jene Erzkonservative, die erst am Mittwoch als Innenministerin zurückgetreten ist, „ernsthafte Bedenken“ angesichts des Agierens der Regierung geäußert und damit Truss‘ Niedergang wohl endgültig angestoßen hat. Die Hardlinerin und Brexit-Befürworterin hatte ihr Amt niedergelegt, nachdem sie ein offizielles Dokument von ihrer persönlichen E-Mail-Adresse an einen „vertrauten parlamentarischen Kollegen“ weitergeleitet hatte, schrieb Braverman. 

Klar ist immerhin, wer es nicht wird. Wie die BBC berichtet, hat Jeremy Hunt, den Truss erst vergangene Woche zum Finanzminister ernannte, bereits erklärt, dass er nicht für den Parteivorsitz kandidieren wird.

Wer Truss‘ schwieriges Erbe antreten wird, bleibt also offen. Wer auch immer das Rennen macht, hat eine Menge Arbeit vor sich. Es gilt, das Chaos der vergangenen Wochen aufzuräumen und die zutiefst zerstrittene Partei zu einen. Und all‘ das ohne breite Unterstützung der Bevölkerung, die erneut ihren Premier oder ihre Regierungschefin vor die Nase gesetzt bekommen wird.

Quellen: BBC; „Sky News“; dpa

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