Herr Mihr, die „Reporter ohne Grenzen“ sind schon lange mit dem Fall von Deniz Yücel befasst, und jetzt ist er nach über einem Jahr frei. Wie haben Sie die Nachricht aufgefasst?

Wir sind unbeschreiblich froh, dass er frei ist. „Reporter ohne Grenzen“ hat sich stark für Deniz Yücel eingesetzt, durch Aktionen, aber auch juristisch. Unter anderem sind wir Drittpartei vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in dem Fall. Es war ja immer ein ziemliches Auf und Ab: Es gab Phasen, in denen die Freilassung wahrscheinlicher erschien, dann wieder Phasen, in denen sie unwahrscheinlicher wurde. Jetzt ist er frei und bei uns herrscht wirklich grenzenlose Freude.

Die Freilassung erfolgt ausgerechnet jetzt: zwei Tage nach dem Jahrestag der Inhaftierung, ein Tag nach dem Besuch des türkischen Ministerpräsidenten Yildirim bei Kanzlerin Merkel …

Der konkrete Zeitpunkt, der Tag, ist natürlich immer überraschend, aber das Deniz Yücel freigelassen wird, kommt letztlich nicht ganz unerwartet nach den vergangenen Wochen und allem, was ich gehört habe. Nämlich, dass die türkischen Justizbehörden den Fall eigentlich loswerden wollten, weil sie von der politischen Dimension ziemlich genervt war. Zudem hat die türkische Regierung ein Interesse an besseren Beziehungen zu Deutschland. Sie hat meiner Meinung nach gemerkt, dass die systematische Geiselnahme von deutschen Staatsbürgern nicht zu den gewünschten Zielen geführt hat. 

Welche Ziele meinen Sie?

Zum einen verlangt die türkische Regierung die Auslieferung mehrerer hochrangiger Ex-Generäle der Armee, die möglicherweise der Gülen-Bewegung nahestehen und hierzulande offenbar Asyl genießen. Hier ist die Bundesregierung standfest geblieben und hat nicht an den Unrechtsstaat Türkei ausgeliefert. Zum anderen wollte Ankara in Fragen der Visa-Freiheit und des Flüchtlingsabkommens Druck ausüben. Einen ganz konkreten Zusammenhang zu der Freilassung sehe ich zwar nicht, aber es ist die Summe vieler verschiedener Punkte, die dazu geführt hat.

Eine Entlassung aus dem Gefängnis quasi per Regierungsbeschluss wirft kein allzu gutes Licht auf die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei …

Die Freilassung von Deniz Yücel ist genauso willkürlich wie seine Inhaftierung. Und sie ist genauso willkürlich wie die Verurteilungen zu lebenslangen Freiheitsstrafen für die drei türkischen Journalisten, die es heute gab (Ahmet und Mehmet Altan sowie Nazli Ilicak wegen des „Versuchs zum Umsturz der Verfassungsordnung“, d. Red.). Wie gesagt, nach allem, was wir gehört haben, wollte die türkische Justiz den Fall gerne loswerden, hat aber relativ unverhohlen gesagt, dass es nicht ihre Entscheidung sei. Insofern kann man schon sagen, dass es in der Türkei weitgehend keine unabhängige Justiz mehr gibt, abgesehen von ganz kleinen Restbereichen mit mutigen Richtern.

Gilt diese Feststellung auch für die Pressefreiheit in der Türkei?

Es gibt dort ganz viele Journalistinnen und Journalisten, die versuchen, tagtäglich Pressefreiheit zu leben. Die unabhängigen Journalismus zeigen, die kritisch recherchieren zu Korruption in der Regierung, zu Menschenrechtsverletzungen. Sie zeigen, dass die Pressefreiheit noch lebendig ist. Zur Wahrheit gehört aber auch: In fast jeder türkischen Redaktion, die ich kenne, gibt es Schreibtische von Kollegen, die leer sind, weil sie im Gefängnis sitzen. Wir sollten der türkischen Regierung aber nicht den Gefallen tun, die Pressefreiheit für tot zu erklären, weil wir damit den mutigen Kollegen in den Rücken fallen würden.

Über hundert Journalisten sitzen in der Türkei weiter in Haft, beklagen Sie und auch andere Organisationen wie „Amnesty International“ …

Die Aufmerksamkeit für die türkischen Kollegen ist weltweit nicht so hoch, wie für Deniz Yücel. Aber wir von „Reporter ohne Grenzen“ haben einen Vertreter vor Ort, ich selber bin oft als Prozessbeobachter tätig, wir bieten – auch anwaltliche – Nothilfe und Unterstützung. Nach allem, was wir wissen, sind die Haftbedingungen oft sehr, sehr, sehr schlecht. Der Zugang zu Angehörigen ist limitiert, die Gespräche mit Familienmitgliedern oder Anwälten werden zum Teil leider fast schon systematisch mitgefilmt und sind nicht privat. Es bleibt für uns viel zu tun in der Türkei.

Reaktionen auf die Freilassung von Deniz Yücel im Video:

Read more on Source