Für die Demonstranten ist es ein erster großer Sieg: Am Dienstag hat der libanesische Premierminister Saad Hariri seinen Rücktritt verkündet. Ihm ist es nicht gelungen, mit kleineren Zugeständnissen die Lage wieder zu beruhigen. Seit dem 17. Oktober kommt es im Libanon zu den wohl größten Protesten in der Geschichte des Landes: Zeitweise gingen mehr als eine Million Libanesen auf die Straße – etwa ein Viertel der Bevölkerung.
Doch mit der Rücktrittserklärung Hariris ist die politische Krise noch nicht überwunden. Denn die Demonstranten wollen mehr. Sie fordern den Rücktritt der gesamten politischen Klasse. Sie haben genug von der chronischen Korruption und dem Staatsversagen. Strom, Wasser, Müllabfuhr – kaum etwas funktioniert. Sie verlangen nicht weniger als ein neues politisches System. Der Libanon ist eine konfessionelle Demokratie:
- Die Wurzeln dieses komplexen Systems liegen in der französischen Kolonialzeit.
- Die Parlamentsabgeordneten werden nach Religionsquoten der 18 offiziell anerkannten Konfessionen gewählt.
- Auch die wichtigsten politischen Ämter und Beamtenposten werden nach dieser Regelung verteilt.
- Für fast jede wichtige Entscheidung braucht es einen Konsens der verschiedenen Machtblöcke – dies dauert meist lang und ist kaum transparent. Die soziale Ungleichheit im Libanon ist extrem.
Um der aktuellen Blockade zu entkommen, müssen sich die wichtigsten Akteure aufeinander zubewegen. Doch bisher verfolgen sie in der libanesischen Oktoberrevolution unterschiedliche Interessen.
Was fordern die Demonstranten?
Viele von ihnen haben mittlerweile einen Wunsch-Fahrplan: Nach dem Rücktritt der gesamten politischen Elite soll eine Übergangsregierung aus unabhängigen Technokraten für sechs Monate übergangsweise die Geschäfte führen.
Ein Verfassungskomitee soll ein neues Wahlgesetz ausarbeiten, das nicht auf Religionsquoten beruht. Allerdings ist unklar, wer die Technokraten und die Mitglieder des Verfassungskomitees bestimmen soll.
Was macht Libanons Präsident Michel Aoun?
Er muss nun einen neuen Premier ernennen, der die Unterstützung der wichtigsten Machtblöcke im Parlament hat. Dabei hat er im Wesentlichen zwei Optionen:
- Erstens könnte er – wie von den Demonstranten gefordert – ein Technokratenkabinett aufstellen lassen. Dies könnte die Lage beruhigen, auch wenn fraglich ist, ob die Technokraten viel zu sagen hätten.
- Zweitens könnte Aoun eine neue Regierung mit dem üblichen politischen Personal aufstellen, vielleicht sogar wieder mit Hariri als Premier.
Dies dürfte jedoch die Proteste befeuern – insbesondere, wenn Aoun seinen verhassten Schwiegersohn dabei nicht opfert: Gebran Bassil, zuletzt libanesischer Außenminister.
Wie verhält sich die Hisbollah?
Die Hisbollah ist der stärkste Machtblock im Libanon. Ihr Anführer Hassan Nasrallah hatte erst sein Verständnis für die Demonstranten geäußert, bevor er vergangenen Freitag plötzlich den Kurs änderte und geradezu drohend klang.
Kurz vor Hariris Rücktritt überfiel ein Mob von Anhängern der Hisbollah und ihrer Verbündeten ein Protestlager im Zentrum Beiruts. Nasrallah scheint die Protestbewegung diskreditieren und unterdrücken zu wollen.
Er könnte sich für eine neue Regierung einsetzen, in der die Hisbollah und ihre Verbündeten – wie Aoun-Schwiegersohn Gebran Bassil – noch stärker vertreten sind. Nach Nasrallahs jüngster Kehrtwende ist allerdings auch nicht ganz auszuschließen, dass er noch einmal seine Taktik ändert.
Viel Zeit für politische Manöver hat der Libanon nicht. Die Proteste haben auch die Wirtschaft teilweise lahmgelegt. Seit zwei Wochen haben die Banken geschlossen. Das Land steht kurz vor dem Staatsbankrott.
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