Die Uneinigkeit der Nato-Staaten auf dem Gipfeltreffen vergangene Woche ist den Russen nicht entgangen. Manche Moskauer Beobachter weiden sich an dem Scherbenhaufen, den der US-Präsident in Brüssel hinterlassen hat. Doch die Schadenfreude mischte sich gleich mit der Enttäuschung, dass auch US-Präsident Donald Trump in Brüssel von russischen Bedrohungen gesprochen hatte. Gerade von ihm hätte man in Moskau mehr erwartet als antirussische Einlassungen. Fast klingt es resignativ, wenn Präsident Putin sagt, er hoffe „irgendwann auf die Normalisierung“ der Beziehung mit Amerika.
Es scheint fast, als hätten sich die Russen abgefunden mit ihren schlechten Beziehungen zum Westen. Die Sowjetunion hatte bei Zwist im Westblock stets sofort versucht, die Europäer zu umgarnen und den Amerikanern abspenstig zu machen. Beim französischen Präsidenten Charles de Gaulle war Moskau 1966 durchaus erfolgreich. Wladimir Putin war zwar jüngst zum Antrittsbesuch in Paris, doch sein Treffen mit Präsident Emmanuel Macron blieb distanziert, lustlos, unterkühlt. Von Liebesschwüren und Abwerben keine Spur.
Warum bemühen sich die Russen nicht mehr um die Europäer?
Beim Bergedorfer Gesprächskreis der Körber Stiftung in St. Petersburg Ende Mai bemühten sich hochrangige Russen und EU-Europäer wenigstens, miteinander zu sprechen. Aber über die Bemühung reichte es meistens nicht hinaus. Das lag auch daran, dass man im Gespräch über sich selbst nach fünf Minuten schon wieder im zeitgeschichtlichen Gestrüpp über Nato-Erweiterung, Kosovo-Krieg 1999, EU-Erweiterung und Russland-Ukraine-Krieg 2014 hängen blieb. Da werden sie sich noch lange nicht einig werden. Müssten sie aber auch nicht, wenn der Streit nicht viel fundamentaler wäre. Im zerbrochenen Fundament Europas liegt eine Antwort auf die Resignation der Russen, aber auch der Europäer. Das klang auf dem Bergedorfer Gesprächskreis in etwa so.
Russen: „Wir fühlen uns bedroht, wenn eure Nato-Jets innerhalb von drei Minuten über St. Petersburg fliegen könnten.“
Europäer: „Wir fühlen uns bedroht, wenn ihr Truppen an den Grenzen der baltischen Staaten massiert und mit Kampfjets über die Strände von Estland und Lettland donnert.“
Russen: „Unser größtes Problem ist die unvollendete Sicherheitsarchitektur in Europa.“
Europäer: „Wieso? Wir müssen uns einfach nur an die Regeln halten, die wir in den 1990er Jahren vereinbart haben.“
Russen: „Das war die Zeit der unipolaren Welt. Wir wollen Regeln auf gleicher Augenhöhe.“
Europäer: „Wir können uns gern über militärische Abrüstung und gegenseitige Kontrollen unserer Truppen einigen.“
Russen: „Aber nur, wenn Nato und EU sich nicht erweitern.“
Europäer: „Wir haben ein Problem, wenn Russland nicht Truppen und Rüstung als Bedrohung sieht, sondern die freie Bündniswahl der Völker Europas.“
So und ähnlich ging es weiter. Hinter den zugespitzten Argumenten aber trat der eigentliche Graben zutage, der jede Annäherung so schwer macht. Viel schwerer als zu Zeiten der Sowjetunion, als sich Nato-Staaten und Sowjets 1975 in Helsinki auf die Grundakte europäischer Sicherheit einigten. Damals wie heute wünschen sich beide Seiten die Unverletzlichkeit der Grenzen und Sicherheit für alle. Doch heute meinen sie damit völlig unterschiedliche Dinge.
Wenn die EU-Europäer von sicheren Grenzen reden, meinen sie, dass man nicht mit Truppen in benachbarte Staaten einmarschiert wie russische Soldaten 2014 in die Ukraine. Dass man kein Territorium annektiert, wie Russland die Krim. Wenn die russische Regierung von sicheren Grenzen redet, meint sie, dass sich Staatenbündnisse nicht erweitern sollen, wie die Nato und die EU. Dass Macht und Einfluss nicht angetastet werden dürfen. Die Europäer reden von Staaten und Grenzen, die Russen sprechen von Einflusssphären. Damit endet die russische Schmerzgrenze viele hundert Kilometer westlich vor der russischen Staatsgrenze. Sie endet an der Westgrenze von Belarus und der Ukraine. Sie endet an den Grenzen von Serbien, das nach Auffassung russischer Politiker auch niemals Teil der Nato oder der EU werden solle.
Die Verwechslung von Schmerzgrenzen und Staatsgrenzen, das Beharren auf Einflusssphären verhindert heute die Annäherung zwischen der EU und Russland. Und deshalb kann Moskau aus dem Zerwürfnis zwischen Trump und der EU keinen Vorteil ziehen.
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