Bis Sonntagabend haben sich die potenziellen Jamaika-Partner Zeit gegeben, sich auf Koalitionsverhandlungen zu verständigen. Trotz vieler Einigungen liegen Union, FDP und Grüne in vielen Themenfeldern immer noch auseinander, vor allem beim Thema Familiennachzug von Flüchtlingen hakt es zwischen CSU und Grünen. Der Traum von Jamaika könnte am Ende aus sein, das politische Berlin stünde vor einem Scherbenhaufen. Und dann? Für diesen Fall gibt es einige Szenarien.
GroKo statt Jamaika?
Wenn sich die vier Parteien nicht einigen, liegt die mögliche Neuauflage von Schwarz-Rot wieder auf dem Tisch. Der SPD-Parteivorsitzende Martin Schulz schloss allerdings nach der Wahl mehrfach kategorisch aus, sich erneut mit der Union an der Regierung zu beteiligen und will mit den Sozialdemokraten Oppositionspolitik machen. Der Wähler wolle die GroKo nicht und habe sie abgewählt, sagte Schulz damals und er hat damit vermutlich auch jetzt noch recht. Bundeskanzlerin Angela Merkel hingegen ließ nach der Wahl durchblicken, dass sie mit dem Thema noch nicht abgeschlossen hat – seinerzeit möglicherweise mit dem Ziel, ihre Verhandlungsposition gegenüber FDP und Grüne zu stärken.
Die Folgen einer GroKo 2.0 wären womöglich ein weiteres Erstarren der Bundespolitik und vor allem für die SPD verheerend: Es drohen ein weiterer Glaubwürdigkeitsverlust und ein massives Aufbegehren der Parteibasis; der selbsternannte Erneuerer Martin Schulz dürfte in diesem Fall seinen Posten räumen (müssen).
Andere Bündnisse?
Auch wenn in der Hauptstadt bisher nur über das Jamaika-Bündnis oder die Neuauflage der Großen Koalition diskutiert wird, es gibt eine ganze Reihe von alternativen Koalitionen für die Regierungsmehrheit von 355 Parlamentssitzen – zumindest theoretisch. Doch alle möglichen Kombinationen haben gewichtige Ausschlussgründe: Dass die Fraktionsgemeinschaft von CDU und der bayrischen Schwester CSU aufgekündigt wird, glaubt eigentlich kaum jemand und die AfD will keine andere Partei in einer Koalition haben, sie selbst will es ja nicht einmal. Auch dass die Union gemeinsame Sache mit der Linkspartei machen würde, ist nur mit sehr viel Phantasie vorstellbar.
Damit schrumpfen die zahlreichen theoretischen Alternativen zusammen – auf zurzeit eine Möglichkeit: Ein Bündnis aus SPD, Grünen, Linken und FDP mit 369 von 709 Sitzen. Allerdings wird dieser Variante wahrscheinlich zumindest weder FDP-Chef Christian Lindner noch der konservative Flügel der SPD zustimmen.
Ein weiterer Fall ist zwar noch unwahrscheinlicher und eigentlich nur etwas für Fans von Parlamentsarithmetik, soll aber dennoch aufgeführt werden. Wenn Frauke Petry und Mario Mieruch nach ihrem Austritt aus der AfD-Fraktion noch mindestens sieben weitere Abtrünnige zu sich ziehen können, könnte sie CDU, FDP und Grünen zu einer Mehrheit verhelfen, ohne die CSU. Eine schwarz-grün-gelb-blaue Tansania-Koalition. Die Unions-Fraktionsgemeinschaft wäre passé, die CSU-Obergrenzen-Pläne könnten in der Schublade versinken, wenn Petry sie nicht gleich wieder hervorholt.
Minderheitsregierung
Folglich ist es äußerst unwahrscheinlich, dass sich im Bundestag eine Mehrheit abseits von Jamaika organisieren lässt, es bleibt: eine Minderheitsregierung der Union. Die beiden Schwesterparteien haben zusammen 246 der 709 Sitze inne, bräuchten für eine Mehrheit bei Gesetzesvorhaben also stets mindestens 109 Stimmen aus den anderen Fraktionen. Wohin das führt, kann sich jeder ausmalen: Die kurzen Zeiten von Minderheitsregierungen im Bund läuteten stets das Ende der Regierungszeit ein, vernünftiges und verlässliches Regieren ist ohne Parlamentsmehrheit nahezu unmöglich und das wolle sie nicht, erklärte Angela Merkel schon am Wahlabend.
Auch die Minderheitsregierungen in den Ländern waren bis auf eine Ausnahme („Magdeburger Modell“) ebenfalls alles andere als Erfolgsgeschichten.
Die Stunde des Bundespräsidenten – Neuwahlen?
Kommen die Parteien nicht auf einen Nenner und lassen die Abgeordneten – in welche Konstellation auch immer – eine Kanzlerkandidatin oder einen -kandidaten in zwei Wahlgängen durchfallen, wird ein dritter Wahlgang angesetzt: Hier reicht dann die relative Mehrheit der Stimmen der Bundestagsmitglieder, um eine neue Regierungschefin oder einen neuen Regierungschef zu wählen. Dann schlägt die Stunden von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: Er kann nach Artikel 63 des Grundgesetzes die Gewählte oder den Gewählten innerhalb von einer Woche zur Kanzlerin oder zum Kanzler ernennen – die Folge wäre eine Minderheitsregierung – oder den Bundestag auflösen. Innerhalb von 60 Tagen müssten Neuwahlen angesetzt werden.
Einen neuerlichen Urnengang lehnt die geschäftsführende Bundeskanzlerin Merkel ab. Jede Spekulation darüber sei eine Missachtung des Wählervotums, sagte sie nach der Wahl. „Wenn der Wähler uns einen Auftrag gibt, dann haben wir den umzusetzen.“ Möglicherweise auch im Eigeninteresse, denn ob die Union nochmals mit ihr in den Wahlkampf ziehen würde, ist fraglich. Ähnliche ablehnende Töne zu einer Neuwahl waren auch von FDP und Grünen zu hören.
SPD-Vorsitzender Martin Schulz sagte bei einer Pressekonferenz nach der Wahl, dass sich diese Frage für ihn nicht stelle. Er sei sich sicher, dass CDU, CSU, FDP und Grüne zusammenfinden. Was hätte er auch sagen sollen? Scheitern die vier Parteien und die SPD verweigert weiter Verhandlungen mit der Union, ist der Buhmann schnell auch bei den Sozialdemokraten.
Die Konsequenzen aus möglichen Neuwahlen sind indes nicht abzusehen: Steigt die Politikverdrossenheit? Wenden sich mehr Menschen radikalen Parteien zu? Gibt es politischen Stillstand in Deutschland? Dazu kommt die Möglichkeit, dass sich alle Beteiligten nach der Wahl in vergleichbarer Situation wie heute wiederfinden.
CDU, CSU, FDP und Grüne – sie sind bei ihren Verhandlungen eigentlich zum Erfolg verdammt, denn die Alternativen sind in Wirklichkeit keine.
Hinweis: Dieser Artikel erschien in einer ersten Fassung bereits am 27. September im stern. Anlässlich der letzten anstehenden Verhandlungsrunden haben wir ihn in einer aktualisierten Fassung erneut veröffentlicht.
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