Wochenlang hat Frankreich über ein höheres Rentenalter gestritten. Auf der Straße und im Parlament gab es erheblichen Widerstand gegen die Reform von Präsident Macron. Der greift nun zum Machtmittel.
Um eine Niederlage abzuwenden, hat Frankreichs Regierung eine umstrittene Rentenreform in letzter Minute ohne die abschließende Zustimmung des Parlaments durchgeboxt. Sie entschied am Donnerstag, das wichtigste Reformprojekt von Präsident Emmanuel Macron mit Hilfe eines Sonderartikels der Verfassung ohne Abstimmung in der Nationalversammlung umzusetzen.
Premierministerin Élisabeth Borne schrie förmlich über die Rücktrittsforderungen der Opposition hinweg: „Diese Reform ist notwendig“. Das Vorhaben zur Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre könnte theoretisch noch durch ein Misstrauensvotum gekippt werden.
Der Griff zum Sonderartikel ist für Macron und die Regierung ein Eingeständnis der Schwäche. Unermüdlich betonte das Kabinett zuletzt, eine Abstimmung zu wollen. Auf das Machtmittel wollten sie wenn irgend möglich verzichten, um der Reform mehr Legitimität zu geben und sich nicht als autoritär kritisieren lassen zu müssen.
Am Schluss fehlten Macron wohl die nötigen Stimmen
Am Vormittag stimmte der Senat noch für die Reform, doch im Unterhaus sah die Sache wohl zu knapp aus. Ein Scheitern wäre für Regierung und Macron fatal gewesen. In letzter Minute vor der Sitzung der Nationalversammlung, berieten Macron und die Regierung erneut und entschieden, auf den Sonderartikel zurückzugreifen.
Das Mitte-Lager des Präsidenten hat in der Nationalversammlung seit der Parlamentswahl im Juni keine absolute Mehrheit mehr. Für die Reform setzte die Regierung auf die Unterstützung der konservativen Républicains. Bis zuletzt war jedoch unklar, ob ausreichend Abgeordnete der gespaltenen Fraktion das Vorhaben billigen würden. Einen Fraktionszwang wie in Deutschland gibt es nicht. Für Macrons nächste Vorhaben muss nun klar sein: auf die Konservativen kann er sich wohl nicht verlassen.
Regierung kann Sonderartikel nur begrenzt nutzen
Um Blockaden in wichtigen Angelegenheiten zu verhindern, kann die Regierung in Frankreich Vorhaben in sehr begrenztem Umfang ohne Abstimmung durch die Nationalversammlung bringen. Die Zustimmung des Senats ist dennoch nötig. Zu dem Sonderartikel kann die Regierung in Haushaltsfragen greifen – wie nun bei der Rentenreform. Darüber hinaus darf sie das Mittel nur einmal pro Parlamentsjahr nutzen.
In trockenen Tüchern ist die Reform aber noch nicht ganz. Linke und Rechtsnationalen kündigten bereits Misstrauensanträge an. Dass die Regierung damit gestürzt wird, gilt aber als unwahrscheinlich.
Derzeit liegt das Renteneintrittsalter in Frankreich bei 62 Jahren. Tatsächlich beginnt der Ruhestand im Schnitt aber später: Wer für eine volle Rente nicht lange genug eingezahlt hat, arbeitet länger. Mit 67 Jahren gibt es dann unabhängig von der Einzahldauer Rente ohne Abschlag – dies will die Regierung beibehalten, auch wenn die Zahl der nötigen Einzahljahre für eine volle Rente schneller steigen soll. Die monatliche Mindestrente will sie auf etwa 1200 Euro hochsetzen. Mit der Reform will die Regierung eine drohende Lücke in der Rentenkasse schließen.
Proteste auf der Straße werden andauern
Das Machtwort im Unterhaus könnte den Druck auf die Regierung von der Straße erhöhen. Seit Wochen gibt es Streiks und Demonstrationen gegen die Rentenreform. Immer wieder mobilisierten die Gewerkschaften Hunderttausende. Sie halten die Reform für brutal und ungerecht. Am Höhepunkt der Proteste beteiligten sich laut Innenministerium mehr als eine Million Menschen, die Gewerkschaft CGT sprach von 3,5 Millionen Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Dass die Reform nun ohne die Stimmen der Abgeordneten umgesetzt werden soll, dürfte viele wütend machen und könnte Streiks bei der Bahn, in den Raffinerien oder bei der Müllabfuhr verschärfen. Am Nachmittag zogen bereits Hunderte Menschen auf den Place de la Concorde im Zentrum von Paris.
Obwohl Macron sich beim Gezerre um die Rentenreform auffällig im Hintergrund gehalten hat und einiges an Verantwortung nun auf Regierung und Opposition abwälzen kann, schadet ihm das Vorgehen auch persönlich. Zwar konnte er die Reform durchboxen, überzeugt hat er aber nicht. Seine Autorität ist angekratzt. Auch Sympathiepunkte muss er durch den Coup einbüßen. Dem Liberalen, der sich gerne als Reformer gibt, dürfte nun daran gelegen sein, sobald wie möglich ein neues Kapitel aufzuschlagen. Möglicherweise auch mit einer aufgefrischten Regierungsmannschaft. Vor ihm dürften nun vier durchaus komplizierte Jahre seiner verbleibenden Amtszeit liegen.
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