Mit der Heimat ist es wie mit der Verwandschaft: Man kann nur hoffen, dass sie nett ist, denn aussuchen kann man sie sich nicht. Irgendwo kommt man immer her. Bei Martin Schulz ist das nicht anders. Nur hatte er – gestern Gottkanzler, heute, na, besser noch ein paar Tage abwarten – Glück. Martin Schulz ließ nie einen Zweifel daran: Seine Heimat ist nicht nur ganz nett, sondern schon richtig, richtig gut. Würselen, das Rheinland, Nordrhein-Westfalen. Dahingehend dürfte es Martin Schulz freuen, wenn er diese Woche in seine Heimat zurückkehren darf, immer und immer wieder. Am Montag Dortmund, am Dienstag Düsseldorf und am Sonntag dann Bonn. Ach, Heimat. Schön, zuhause zu sein.

Als Martin Schulz am Montagabend aber in das Kongresszentrum der Dortmunder Westfalenhalle kam, hatte er dieses heimatliche Wohlfühlgefühl offenbar nicht mitgebracht. Genervt habe er gewirkt, genervt und bedrückt, das hat die „taz“ aus seinem Gesicht gelesen. Wie jemand, dem sein Job große Freude bereitet, sehe er jedenfalls nicht aus, schrieb das „Handelsblatt“. Am Tag darauf, in Düsseldorf, hielten Jusos Plakate mit roten Schriftzügen in die Luft: „Wer die Basis nicht ehrt, ist des Regierens nicht wert.“ „Nie, nie, nie wieder GroKo“, brüllten sie Schulz zu. Reaktion Schulz‘: gequältes Grinsen. Das ist kein einfacher Heimatbesuch. Plötzlich muss er SPD-Delegierte von den Vorzügen der großen Koalition überzeugen. Er, der am Abend des 24. September – endlich von der Leine gelassen – an die Adresse von Merkel giftete: skandalöser Wahlkampf, Verliererin des Abends, Ideenstaubsauger. GroKo, nein, nein, nein. Er, ausgerechnet.

Die GroKo und Martin Schulz

Es ist kein Jahr her, da war Martin Schulz der scheinbar glücklichste Sozi unter der Sonne: Mister 100 Prozent. „Schulzzug“ war damals ein Wort, das Medien ohne jede Ironie auf ihre Titelblätter schrieben. Jetzt, fast vier Monate nach einer verheerenden Bundestagswahl, muss Schulz mit Blick auf seine GroKo-Kehrtwende Dinge sagen wie: „Das ist eben Politik, Politik ist dynamisch.“ Die Jamaika-Parteien hätten den Karren an die Wand gefahren. Und: Die SPD habe in den Sondierungen eine Menge durchgesetzt.

Nach 100 Prozent klingt das nicht. Jetzt ist Schulz Herr 20undnochirgendwas Prozent, der nicht umworben wird, sondern selbst werben muss. Einfach ist das nicht. Ungefähr zur selben Zeit, wie der SPD-Chef in Dortmund für Koalitionsverhandlungen mit der Union trommelte, sagte seine linke Parteikollegin Hilde Mattheis mit starker Stimme im ZDF-heute journal: „Wir haben in Großen Koalitionen immer unser Wahlergebnis nach unten entwickeln lassen. Da ist nach 20,5 Prozent auch noch Luft nach unten. Von daher: keine Große Koalition.“ 

Stünde Hilde Mattheis allein, wäre das kaum ein Thema. Tut sie aber nicht. Gar einige in der Partei, allen voran die Jusos, haben genug von Merkel, Seehofer, Dobrindt. Die SPD-Landesverbände von Sachsen-Anhalt, Berlin und Thüringen sagen offen Nein zur GroKo. Von Juso-Chef Kevin Kühnert, 28 Jahre alt, muss sich Parteichef Schulz dieser Tage öffentlich sagen lassen, dass eine Dauerkoalition mit der Union die Existenz der Sozialdemokratie gefährde. Und gerade als Jugendorganisation der SPD habe man „ein Interesse daran, dass noch etwas übrig bleibt, von diesem Laden, verdammt noch mal“. 

Versenkt die SPD auf ihrem Sonderparteitag in Bonn die Sondierungspapiere, geht ihr Chef Martin Schulz wohl mit ihnen unter. Von Nordrhein-Westfalen war er gekommen, um erst Europa und dann Deutschland zu verändern. Hierhin kehrt er zurück. Hier könnte er enden.

Herzkammer mit Herzproblem

Nordrhein-Westfalen ist wichtig für die SPD, womöglich politisch überlebenswichtig ist das Bundesland für Martin Schulz. Ruhrpott, Arbeitergebiet und der Schulz, der von unten kam, der eben kein Abi hat, und sich nach oben gearbeitet hat – das sollte doch passen. Doch einst SPD-Stammland, mit Dortmund als viel zitierte „Herzkammer der Sozialdemokratie“, meinte es das Bundesland in den vergangenen Monaten nicht allzu gut mit dem eigenen Sohn aus Würselen. Landtagswahl Mitte Mai – Niederlage für SPD-Amtsinhaberin Hannelore Kraft, der neue Ministerpräsident heißt Armin Laschet von der CDU. Martin Schulz sagte danach: „Das ist ein schwerer Tag, auch für mich persönlich.“ Dann sagte er: „Leberhaken“. Und noch etwas später schrieb Journalist Markus Feldenkirchen im „Spiegel“, was Schulz abseits der Kameras sonst noch so gesagt hatte: „Leck mich en de Täsch!“ Bei der Bundestagswahl vier Monate später kam es noch dicker. Niederlage Schulz. SPD auf Allzeittief. SPD in NRW, minus sechs Prozent. Dem „Spiegel“ sagte Martin Schulz: Partei und Kampagne hätten sich von der NRW-Niederlage nie wieder erholt. Sich in NRW auf Wunsch von Hannelore Kraft zurückzuhalten, das sei sein größter Fehler im Wahlkampf gewesen.

SPD-Parteitag: NRW schickt die meisten Delegierten

Jetzt, Monate später, muss Schulz wieder kämpfen. Es ist nicht vorstellbar, dass die SPD am Sonntag Koalitionsverhandlungen mit der Union ablehnt, Verhandler Schulz aber behält. Deshalb besuchte er NRW, rausgehen statt sich raushalten. Die NRW-SPD stellt mit 144 von 600 Delegierten am Sonderparteitag am Sonntag die größte Truppe, fast ein Viertel. Was die NRW-SPD fühlt, könnte entscheidend werden. „Jubel, Trubel, Heiterkeit“ sei angesichts der Sondierungspapiere zwar nicht angesagt, das gibt auch Michael Groschek zu, SPD-Landesvorsitzender in Nordrhein-Westfalen. „Aber wir sollten auch nicht so tun, als sei dieses Ergebnis völlig unzureichend, um zu verhandeln.“ Schulz sagte nach dem Treffen in Düsseldorf, er habe, ähnlich wie in Dortmund, am Ende einer kontroversen Diskussion viel „Nachdenklichkeit erlebt. „Das lässt mich hoffen, dass wir in großer Geschlossenheit auf dem Parteitag mit einem Mandat ausgestattet werden, in diese Koalitionsverhandlungen einzutreten.“

Doch die Stimmung an Rhein und Ruhr ist bisher nur so lala. Zwei der sechs Mitglieder des SPD-Bundesvorstands, die am Freitag gegen die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen gestimmt hatten, stammen aus der NRW-SPD. Dass überhaupt ein Sonderparteitag über die Aufnahme von Koalitonsverhandlungen mit der Union entscheidet, auch das hatte die NRW-SPD ins Rennen gebracht. Und: Die NRW-SPD wird im Unterschied zu anderen Landesverbänden der Partei nicht über die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen abstimmen, es wird kein öffentliches Bekenntnis geben. In Dortmund sprachen einige der Delegierten davon, dass sie die „sozialdemokratische Handschrift“ in den Papieren vermissten, keine SPD-Leuchtturmprojekte sähen oder generell zu wenig. Schulz sei umgefallen. „Ich fühle mich verarscht und belogen“, sagte eine SPD-Delegierte in Düsseldorf. Die SPD – vor der Union eingeknickt. Und wie war das noch mit der Minderheitsregierung? 

Schulz kann nur zuhören, erklären, versuchen, zu überzeugen. Dann muss er weiter, die Zeit läuft. Am Mittwoch ist er in Kloster Irsee, Bayern. Nach Niedersachsen, 81 Delegierte – der Bundesverband hat sich schon offen für Koalitionsverhandlungen ausgesprochen – mit 78 Delegierten der drittgrößter Player am Sonderparteitag. In Bayern wird Schulz wieder reden, wieder kämpfen. Der Rest entscheidet sich in Bonn. Dann kann er nur noch hoffen, dass sie nett sind.

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