Eineinhalb Jahre lang regierte Sebastian Kurz Österreich unangefochten: Die Wirtschaft wuchs. Seine Umfragewerte waren stabil. Entgleisungen seines rechtspopulistischen Koalitionspartners, der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), berührten ihn wenig. Wenn nicht ein Komet einschlage, so prophezeite der österreichische Journalist Armin Wolf noch vor wenigen Wochen, dann würden Kurz‘ Österreichische Volkspartei (ÖVP) und die FPÖ noch lange gemeinsam regieren.
Nun aber ist ein Komet eingeschlagen. Der SPIEGEL und die „Süddeutsche Zeitung“ enthüllten am vergangenen Freitag, dass FPÖ-Chef und Vizekanzler Heinz-Christian Strache einer vermeintlichen Russin in einem heimlich gefilmten Video 2017 auf Ibiza Staatsaufträge gegen Wahlkampfhilfe in Aussicht gestellt hatte. Seither ist in Österreich alles anders. (Lesen Sie hier die SPIEGEL-Story über das Strache-Video, mit der alles begann.)
Bosse im Strache-Video: Reiche Freunde?
Strache zog sich bereits am Samstag von allen Ämtern zurück. Am Montag traten dann sämtliche FPÖ-Minister aus der Regierung aus, nachdem Kurz unmittelbar zuvor Innenminister Herbert Kickl entlassen hatte. Die Regierung ist innerhalb von Tagen implodiert. Das ÖVP-FPÖ-Projekt ist spektakulär gescheitert. Und nun muss auch Kurz um seine Macht fürchten. (Alle Entwicklungen hier im Newsblog.)
Die Partei „Jetzt-Liste Pilz“ des ehemaligen Grünen-Politikers Peter Pilz hat einen Misstrauensantrag gegen Kurz eingereicht, über den das Parlament am kommenden Montag entscheiden will.
Für die Abstimmung am 27. Mai sind zwei Szenarien denkbar:
- Kurz übersteht den Misstrauensantrag. Dann könnte er bis zu den Neuwahlen im September mit einer Regierung aus ÖVP-Politikern und Experten weiterregieren, wie von ihm geplant.
- Kurz wird abgewählt. Dann müsste Bundespräsident Alexander Van der Bellen eine neue Übergangsregierung einberufen. Der Wahltermin müsste dann aller Wahrscheinlichkeit nach vorverlegt werden.
Ob der Misstrauensantrag Erfolg hat, hängt nun vor allem von zwei Parteien ab: Der FPÖ und den Österreichischen Sozialdemokraten (SPÖ).
Die FPÖ ist in der Ibiza-Affäre längt zum Gegenangriff übergegangen: Ex-Vizekanzler Strache spricht von einem „politischen Attentat“. Sein Parteifreund Kickl wirft der ÖVP „kalte und nüchterne Machtbesoffenheit“ vor. Im Hinblick auf ein Misstrauensvotum sagte er an die ÖVP gerichtet: „Wer Misstrauen gibt, kriegt Misstrauen.“ Ein Statement, das ein Parteisprecher am Dienstagvormittag relativierte.
Alexander Van der Bellen: Österreichs ruhige Hand
Noch unübersichtlich ist die Lage bei der SPÖ. Die Partei steckt in einem Dilemma: Sie will Kurz einerseits vor den Wahlen den Amtsbonus rauben, andererseits schreckt sie davor zurück, mit der rechtspopulistischen FPÖ zu paktieren.
Hans Peter Doskozil, SPÖ-Landeshauptmann im Burgenland und ehemaliger Verteidigungsminister, zeigte sich in einem Gespräch mit dem ORF am Montagabend offen für ein Misstrauensvotum. Parteichefin Pamela Rendi-Wagner drängte Kurz hingegen, freiwillig zurückzutreten – eine Forderung, die dieser kaum erfüllen wird.
Die SPÖ steht vor einer Zerreißprobe – wie das gesamte Land.
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