Der Gegenstand, um den sich gerade ein ganzes Land streitet, ist gut zwei Finger dick, hat einen blauen Einband und enthält 350 Artikel. Die „Constitución de la República bolivariana de Venezuela“, die venezolanische Verfassung, ist so etwas wie die Bibel der bolivarischen Revolution. In deren Namen haben erst Hugo Chávez und später Nicolás Maduro das südamerikanische Land seit 2000 umgekrempelt und an den Abgrund geführt.

Die Verfassung sei das Fundament, auf dem der Sozialismus des 21. Jahrhundert fußte, ließ der verstorbene Präsident Chávez immer wissen. Auch sein Nachfolger Maduro hat diese Verfassung lange als die beste der Welt bezeichnet und gerne damit gewedelt, wenn er über die Opposition fluchte oder neue Sparmaßahmen verkündete.

Nun will ausgerechnet Maduros Regierung die Verfassung neu schreiben lassen. Inmitten schwerer Proteste gegen ihn verkündete der Präsident am 1. Mai, dass eine Verfassungsgebende Versammlung – die „Asamblea Nacional Constituyente“ (ANC) – eine neue ausarbeiten solle. An diesem Sonntag sollen dafür aus 6000 Kandidaten die 545 Mitglieder bestimmt werden.

Die Kritik an dem Vorhaben ist groß: Die geplante Verfassunggebende Versammlung sei „Betrug“ am venezolanischen Volk und diene der Regierung nur dazu, endgültig Demokratie gegen Diktatur zu tauschen, heißt es aus der Opposition. Während der Präsident in dem aufgewühlten und ausgepowerten Land damit angeblich die verfassungsmäßige Ordnung wiederherstellen und „dauerhaften Frieden“ sichern will, vermuten die Opposition, große Teile der internationalen Gemeinschaft und mittlerweile auch abtrünnige „Chavisten“ dahinter einen institutionellen Putsch.

„Ein totalitäres Regime installieren“

Wer Diosdado Cabello zuhört, Vize-Präsident der Regierungspartei PSUV und neben Maduro zweiter starker Mann im Staat, kann ahnen, was Venezuela von kommender Woche an droht: „Die Constituyente wird das Parlament abschaffen, die Immunität seiner Mitglieder aufheben, die Generalstaatsanwaltschaft auf den Kopf stellen und die Regierungsinstitutionen hinter Nicolás Maduro versammeln.“ Das käme einer Abschaffung der Demokratie westlichen Zuschnitts gleich. Und vieles deutet darauf hin, dass sich Maduro mit diesem Schritt seiner Gegner entledigen will, vor allem dem von der Opposition dominierten Parlament.

Denn ein Präsidentendekret vom 23. Mai sieht vor, dass die ANC ihre Arbeit 72 Stunden nach ihrer Wahl aufnimmt – mit umfassenden Kompetenzen und auf unbestimmte Zeit. Als Ort ist der Sitz der Nationalversammlung vorgesehen. Man darf annehmen, dass das Parlament so nicht nur verlegt, sondern gleich geschlossen werden soll. „Die Verfassunggebende Versammlung ist die Formel, um ein totalitäres Regime zu installieren“, warnt der Amerika-Direktor der Menschrechtsorganisation Human Rights Watch, José Miguel Vivanco. „Sie muss gestoppt werden, bevor es zu spät ist.“

Das sieht auch die politische Opposition so, die im Bündnis MUD zusammengeschlossen ist. Seit Mittwoch befindet sich Venezuela in permanentem Protestmodus. Auf einen 48-stündigen Generalstreik folgte ab Freitag die „Toma de Venezuela“, die „Einnahme Venezuelas“. „Freitag, Samstag, Sonntag – alle gegen die Constituyente von Maduro auf die Straße“ forderte der Vize-Präsident der Nationalversammlung, Freddy Guevara.

Doch dem Aufruf folgten deutlich weniger Menschen als sonst. Es regnete lang in Caracas, und das Demonstrationsverbot der Regierung mit der Androhung von bis zu zehn Jahren Haft zeigte Wirkung.

Regierungsnahe ländliche Gebiete bekommen höhere Gewichtung

Tatsächlich braucht Venezuela keine neue Verfassung, sondern schnelle Hilfe und einen Wiederaufbau. Denn das Land mit den größten nachgewiesenen Ölreserven der Welt ist heute ein internationaler Sozialfall. Es drohen nicht nur der Kollaps der Regierung und Bürgerkrieg, sondern auch ein Zahlungsausfall, weil die Devisenreserven im gleichen Rhythmus schmelzen wie die Ölförderung einknickt. Zudem hungern die Menschen, bekommen keine Medikamente mehr und sind krank.

Aber darum dürfte es bei der Arbeit an einer neuen Verfassung nicht gehen. Zwar will Maduro keine Versammlung der „Parteien der Elite“, sondern eine „Constituyente der Bürger, der Arbeiter, der Bauern und der Kommunen“. Dafür hat er vornherein Bewerbungen aus den politischen Parteien ausgeschlossen.

Aber dabei dürfte es ihm eher darum gehen, die Opposition auszuschließen. Denn auf der Liste der Kandidaten stehen auch viele Mitglieder der regierenden Sozialistischen Einheitspartei PSUV auf der Liste der Kandidaten, weil sie zugleich noch Posten in regierungsnahen Organisationen bekleiden und für diese antreten. Auch prominente ehemalige Minister, wie zum Beispiel die frühere Außenamtschefin Delcy Rodríguez, wollen in die ANC. Und noch ein Name ist bekannt: Nicolás Maduro junior, 27 Jahre und Sohn des Präsidenten, kandidiert für den Bereich der „Arbeiter“.

Außerdem werden 173 der 545 Mitglieder aus acht verschiedenen produktiven Sektoren bestimmt, die zumeist in der Hand des Staates sind: Arbeiter, Bauern und Fischer, Vertreter der Unternehmerschaft, der Gewerkschaften und der „Consejos comunales“, den Basisorganisationen der Regierung in den Stadtvierteln. Per Dekret sorgte Maduro zudem dafür, das die regierungsfreundlicheren ländlichen Gebiete stärker repräsentiert sind als die oppositionsnahen Städte.

Die Opposition kritisiert deshalb, dass es ein deutliches Übergewicht für diejenigen gibt, die in der einen oder anderen Weise der Regierung nahestehen. Die ANC werde so eher an einer Verfassung arbeiten, die Maduro dauerhaft die Macht sichert, so die Befürchtungen.

Aus ihrer Sicht steht das Ergebnis dieser Wahl schon vorher fest: eine breite Mehrheit für die Regierung. Wenn bis Sonntag nicht noch Außergewöhnliches passiert, wird Maduro den Staat so weiter auf sich zuschneiden, bis es auch dem größten Anhänger der Regierung zu bunt wird. Oder bis das Militär dem Präsidenten auf dem Weg zum Diktator einen Riegel vorschiebt.

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