Waffenruhen, zumal in Syrien, kennen mehr als zwei Zustände: Die Realität spielt sich oft irgendwo zwischen „keiner schießt mehr“ und „alle schießen“ ab. Jede kleine Pause an jedem Ort dieses Krieges ist eine Erleichterung, aber die großen Hoffnungen haben sich viele Beobachter nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre abgewöhnt. Dass die jüngste Vereinbarung brüchig sein würde, war von Beginn an zu erwarten. Vorangetrieben kurz vor dem Jahreswechsel von Russland und der Türkei, unterstützt vom Iran, sollte das Schweigen der Waffen neuen Gesprächen vorausgehen, die noch im Januar im kasachischen Astana geplant sind. Ziel: ein politischer Weg in die Zukunft für Regime wie Opposition. Frieden, wenn man so will.
Inzwischen drohen mehrere der beteiligten oppositionellen Gruppen, das Abkommen aufzukündigen. Fast alle der großen Kampfverbände der Rebellen hatten der Waffenruhe zugestimmt, mit tiefer Skepsis, ob sich das Regime und seine Unterstützer lange daran halten würden. Im Grunde auch in der Angst, beim geplanten Gipfel gehe es eher um die Neuordnung Syriens unter den militärisch dominanten Mächten (allen voran Russland, der Iran und neuerdings die Türkei) als um einen diplomatischen Ausgleich – also am Ende um die Aufteilung dessen, was übrig und noch nützlich ist. Die Regimekräfte jedenfalls setzten ihre Angriffe fort, insbesondere nahe Damaskus. Die Waffenruhe steht kurz vor dem Zusammenbruch.
Der UN-Sicherheitsrat hatte sich am Wochenende hinter die russisch-türkische Initiative gestellt, deren Aussichten doch so gering sind. Denn die Interessen der Beteiligten gehen weit auseinander. Der russische Präsident Wladimir Putin hat seinem Schützling Baschar al-Assad militärisch die Oberhand verschafft, will sich aber nicht auf Dauer in den Krieg verwickeln lassen. Ein Sieg der Rebellen ist nach dem Fall von Aleppo praktisch unmöglich geworden. Putin weiß aber auch, dass sich mit Assad als Präsident auf Dauer kein Staat mehr machen lässt. Dazu sind Widerstand und Verbitterung, Rachegefühle und Hass in der Bevölkerung zu groß.
Für den Iran steht Assad nicht zur Disposition
Und so dürfte der Kreml vielleicht doch auf eine langfristige, schrittweise Entmachtung des Assad-Clans hinarbeiten. Mit einem Abgang des Diktators erst in einigen Jahren kann sich mittlerweile offenbar auch die Türkei abfinden. Deren Führung hat nach dem Putschversuch im Juli auch ihre außenpolitischen Prioritäten neu justiert. Im Vordergrund steht für Ankara jetzt der Kampf gegen eine autonome Kurdenprovinz auf syrischem Territorium, die zur Keimzelle eines Kurdenstaates werden könnte.
Es wundert nicht, dass der syrische Außenminister Walid al-Muallim im Zuge der neuen Initiative sofort nach Teheran flog, begleitet vom Chef der Staatssicherheit. Denn für den Iran und seine schiitischen Milizen, die die Hauptlast der Bodenkämpfe tragen, steht die Zukunft Assads nicht zur Disposition. Sie hoffen nach wie vor auf einen totalen militärischen Sieg. Dies würde die Islamische Republik im Ringen mit den sunnitischen Golfstaaten zur unangefochtenen Hegemonialmacht in der Region machen.
Die Kompromisslosigkeit Teherans bietet dem Assad-Regime permanente Rückendeckung, um politische Vereinbarungen zu unterlaufen und durch gezielte Brüche der Waffenruhe weitere Offensiven gegen die Rebellen zu starten. Russland wäre beinahe gezwungen, erneut mit zu bomben, um gegenüber dem Iran nicht ins Hintertreffen zu geraten. Oft genug hat sich Assad die Konkurrenz zwischen Russland und Iran zunutze gemacht.
Kurden ausgeschlossen, die USA als Zuschauer
Nicht am Abkommen über die Waffenruhe beteiligt waren die Dschihadisten des „Islamischen Staats“ (IS) und der Al-Kaida-Ableger Dschabhat Fatah al-Scham (die frühere Al-Nusra-Front). Natürlich nicht, sie wollen weiter für ihr Kalifat respektive gegen Assad kämpfen. Auf Druck der Türkei sind jedoch auch die bewaffneten Kurden von den Gesprächen ausgeschlossen. Im Kampf gegen den IS haben die YPG-Milizen bisher die größten Erfolge erzielt. Sie werden von den USA unterstützt und stehen der Partei der Demokratischen Union (PYD) nahe, die ideologisch zum Lager der in der Türkei verbotenen PKK gehört.
Nach allen gescheiterten Versuchen und gebrochenen Versprechungen ist die größte Veränderung in diesen Tagen nicht: Es gibt eine neue Waffenruhe und sie könnte schnell wieder Geschichte sein. Die Pause im Kriegsgeschehen zeigt zuallererst noch einmal deutlich, in wessen Händen das Schicksal Syriens liegt. Die USA haben darauf jetzt keinen Einfluss. Zumindest bis ein neuer Präsident übernimmt, der ebenfalls für allerlei eigennützige Deals zu haben ist: Donald Trump.
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