Wie es um die Meinungsfreiheit in der Türkei steht, ist weitläufig bekannt: immer mehr Oppositionspolitiker verschwinden hinter Gittern, kritische Intellektuelle und Journalisten ebenso — es sei denn, sie betreiben Selbstzensur oder schreiben im Exil. Wer Präsident Recep Tayyip Erdoğan tatsächlich oder angeblich beleidigt, muss ebenfalls mit einer Haftstrafe rechnen.

Auch dem, der nur Kritik am generellen Zustand des Landes übt, droht mittlerweile Gefängnis und sogar Gewalt. Das erfuhr der türkische Modedesigner Barbaros Sansal diese Woche: Kurz vor Neujahr teilte Sansal ein satirisches Video, in dem er sich eine Minute lang über religiös-konservative Aktivisten, Korruption und die schwindende Pressefreiheit in der Türkei erregte.

Sansal, der sich über Neujahr im von der Türkei besetzten Nordzypern aufhielt, ist schon lange ein ausgesprochener Kritiker der AKP-Regierung. Doch dieses Video war offenbar Grund genug, ihn zu verhaften. Nordzypern wies Sansal aus, nach seiner Ankunft in Istanbul am Montagabend wurde er festgenommen.

Als Sansal in Istanbul landete, bildete sich eine Menschentraube um die Gangway und attackierte den Modedesigner, während er das Flugzeug verließ. Ein Video zeigt wie eine aufgebrachte Menge — darunter auch Flughafenangestellte — auf Sansal einschlägt, obwohl dieser von Polizisten begleitet wurde.

Mit seinem Video hatte Sansal offensichtlich einen Nerv getroffen. Während Journalisten im Gefängnis säßen und „überall“ Korruption sei „und Fanatiker Scheiße an euch in den Straßen verteilen, feiert ihr noch Neujahr“, sagte der Designer dort. Feiert ruhig weiter, setzte er hinzu, „während es so viel Schmutzigkeit, Abscheulichkeit und Verarmung gibt“.

Konservative Aktivisten und Kommentatoren hatten zuvor gegen „unislamische“ Silvesterpartys agitiert. Der Rat für Religionsangelegenheiten beschrieb Neujahrsfeiern als „illegitim“. Wenige Tage später griff ein Attentäter eine Neujahrsparty im vornehmen Istanbuler Club Reina an und tötete 39 Menschen; der „Islamische Staat“ reklamierte die Tat für sich und nannte Silvester ein „polytheistisches Fest“ für Christen.

Viele Twitternutzer verurteilten Sansals provokatives Video als beleidigend, vor allem aber brachte er Gefolgsleute der regierenden AKP gegen sich auf. Eine Journalistin von CNN-Türk forderte, der Designer müsste für seine Kritik bestraft werden. Melih Gökcek, der Bürgermeister von Ankara, teile ein Bild, das Sansal am Montagabend mit blutiger Nase zeigte, und feierte den Angriff des Flughafenmobs. Am Dienstag erschien Sansal vor Gericht. Ein Staatsanwalt beschuldigte ihn der Anstiftung zu „Hass und Feindseligkeit“; er wurde formell verhaftet.

Regierungsgegner sehen mit Unmut, wie die Regierung Kritik jeder Art strafbar macht. Sansal hatte in seinem Video nicht einmal die Regierungspartei AKP, den Präsidenten oder Minister beim Namen genannt — Tabus, die viele Kritiker schon lange umgehen. „Wie stumm die verbleibenden Journalisten und Akademiker zu jeder neuen Verhaftung geworden sind!“, bemerkte Howard Eissenstat, ein Türkei-Experte an der St. Lawrence University im Staat New York, nach Sansals Festnahme. 

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