Erst Gas vom Kriegs-Aggressor, jetzt Energie von Menschenrechtsverachtern? Ist das in Ordnung? Der Krieg lehrt Politik und Gesellschaft in Deutschland, dass es nicht immer ein Richtig oder Falsch gibt. Das kann auch eine Chance sein.
„In Schuld verstrickt.“ So sah sich Helmut Schmidt, als er als Bundeskanzler während des Deutschen Herbstes 1977 entscheiden musste, ob er den mordenden RAF-Terroristen nachgeben oder alternativ praktisch das Todesurteil für deren Geisel, den damaligen Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer, fällen sollte. Schmidt blieb bekanntlich hart, Schleyer wurde wenig später tot aufgefunden.STERN PAID 12_22 Meinung Welzer Ukraine Russland
Wenn auch in einer kleineren Dimension, befand sich Schmidt seinerzeit in einer ähnlich ernsten Situation wie die heutige Bundesregierung. Welche Entscheidung man auch immer trifft, man ist „in Schuld verstrickt“. Richtig oder falsch sind aufgehoben. Was immer man tut, man kommt nicht davon, ohne selbst Schuld auf sich zu laden. Etwas prosaischer hat das Außenministerin Annalena Baerbock mit Blick auf den Ukraine-Krieg als „Wahl zwischen Pest und Cholera“ beschrieben.
Energieversorgung: Diener auch an fragwürdiger Stelle
Der russische Überfall auf die Ukraine hat der Moralität, die die öffentliche Debatte in Politik und Gesellschaft hierzulande zuletzt sehr geprägt hat, mindestens in einigen Bereichen unerbittliche Grenzen gesetzt. Robert Habeck wäre nach seinem doch etwas zu tiefen Diener vor dem Energieminister von Katar noch vor kurzem sicherlich in der Luft zerrissen worden. Erst jetzt, wo jedem klar geworden ist, wie fatal es ist, abhängig vor allem von russischen Gaslieferungen zu sein, dämmert es den meisten, dass es in der Politik nicht immer eine moralisch einwandfreie Lösung geben kann, dass man auch schon mal an fragwürdiger Stelle einen Diener machen muss. Denn schließlich ist ja auch das Festhalten an russischem Gas angesichts des Krieges moralisch falsch ebenso wie es für eine Regierung unverantwortlich wäre, die Versorgung der eigenen Bevölkerung und Wirtschaft aufs Spiel zu setzen.
Tagebuch des Ukraine-Krieges 20.07h
Habeck nennt das alles „bitter“. Der grüne Wirtschaftsminister will seinen Bittgang um katarisches Flüssiggas daher auch als Auftakt einer möglichst schnellen Entwicklung zu mehr Energiesparen und mehr Erneuerbaren verstanden wissen. Er will so bald und so weit wie möglich raus aus der Zwickmühle, statt Gas vom Kriegs-Aggressor Energie von Menschenrechtsverachtern zu beziehen, aus seiner Art der „Wahl zwischen Pest und Cholera“.
Ukraine-Krieg setzt Moralität absolute Grenzen
Zumindest hörbar geraunt wird über Habecks Diener dennoch. Darf man mit Katar, wo beispielsweise die Arbeiter an den WM-Stadien wie Sklaven behandelt wurden, Geschäfte machen? Natürlich dürfen und sollen nicht alle Grundsätze über Bord geworfen werden, doch der Krieg lehrt schmerzlich und spürbar, dass die zuletzt beliebte Attitüde des „besseren Menschen“ in der Politik keinen Platz hat.
Schließlich sind auch die anderen großen Entscheidung im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg zweischneidig, obwohl sie allgemein als richtig anerkannt werden: Die Waffen, die Deutschland der Ukraine zur Verteidigung liefert, töten natürlich Menschen, doch kann man das Land nicht allein lassen. Und die schrecklichen Kriegsereignisse verlangen eigentlich, dass die Nato der Ukraine aktiv beispringt, doch einen dritten Weltkrieg auszulösen, das kann schlicht niemand verantworten. Bedeutet aber eben auch: Man ist „in Schuld verstrickt“.
Lernprozess wertvoll für kommende Krisen?
Das ist natürlich beileibe keine neue Erkenntnis. Doch in der Blase des Nachkriegsdeutschlands, die nach der Wende mit zunehmender Mühe aufrecht erhalten wurde, wurde dies in Politik und Gesellschaft lange verdrängt. Spätestens seit der Flüchtlingskrise 2015 musste aber klar sein, dass sich die Probleme der Welt nicht weiter außen vor halten lassen. Nun sind sie für jeden greifbar. Der jetzt zu beobachtende Lernprozess, sich unausweichlichen Gegebenheiten zu stellen, dabei die eigenen Grundsätzen nicht zu verraten, und dennoch auch schmerzliche Entscheidungen zu fällen, könnte sich für kommende Krisen noch als wertvoll erweisen – vor allem im Zusammenhang mit dem Klimawandel. Immer vorausgesetzt, dass mit dem Ukraine-Krieg nicht schon Ereignisse in Gang gesetzt wurden, die alles überrollen werden.
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