Was die Deutschen über den Krieg in der Ukraine denken, hat Konsequenzen für diesen Krieg. Waffenlieferungen, Sanktionen – die europäische Antwort auf den russischen Angriff hängt auch davon ab, welche Mehrheiten es im größten EU-Land gibt. Einzelne Umfrageergebnisse, beispielsweise zu Panzerlieferungen, erregen immer wieder Aufmerksamkeit – aber wie sieht es jenseits der tagesaktuellen Aufreger aus?
ZEIT ONLINE versucht zum Jahrestag des Kriegsbeginns ein möglichst umfassendes Bild zu zeichnen, wie die Deutschen über den Krieg denken und wie sich ihre Meinungen im Lauf des Jahres verändert haben. Wir haben dazu Daten von den Umfrageinstituten Infratest, Allensbach und der Forschungsgruppe Wahlen gesammelt, mit Demoskopen über ihre Arbeit gesprochen und mit Wissenschaftlern darüber, wie politische Meinungen überhaupt zustande kommen.
1. Was mit Kriegsbeginn passierte
Die Kriegsangst steigt, Russland wird zum Feind, die Bundeswehr soll mehr Geld bekommen: Das sind die drei vielleicht deutlichsten Meinungsumschwünge nach dem russischen Angriff am 24. Februar. Die Deutschen ändern hier auf einen Schlag jahre-, teils jahrzehntealte Positionen.
Den Forsa-Chef Manfred Güllner erinnert dieser Umschwung an einen anderen vor mehr als zwanzig Jahren. Damals hätten die Kriege im Kosovo und in Afghanistan die Meinungen der Deutschen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr gedreht. „Die Bevölkerung zieht auch jetzt wieder in ihren Einstellungen dem Weltgeschehen und der Politik nach“, sagt Güllner.
Roberto Heinrich, der bei Infratest dimap für die regelmäßigen Deutschlandtrend-Umfragen der ARD verantwortlich ist, sagt, dass auch die Demoskopen sich erst auf den Krieg einstellen mussten: „Die Deutschen mussten sich zum Glück jahrzehntelang nicht so direkt mit Kriegen auseinandersetzen. Auch wir als Institut mussten neue Fragenformate entwickeln, die dieser Situation gerecht werden.“ Infratest dimap hat vor allem in den ersten Kriegswochen in die Fragen oft einen Hinweis auf mögliche Folgen mitformuliert, beispielsweise: „Unterstützen Sie Maßnahmen gegen Russland auch dann, wenn es dadurch zu Engpässen in der Energieversorgung kommt?“ Die Demoskopen haben also versucht, den Menschen die Zusammenhänge und Wirkungen der Kriegspolitik bewusst zu machen, weil die meisten mit so etwas vorher keine eigenen Erfahrungen hatten. Schon bald nach Kriegsbeginn hat Heinrich solche Formulierungen aber weggelassen. Die Deutschen wissen jetzt, wie sich der Krieg in der Ukraine und die Reaktionen der deutschen Politik auf sie auswirken.
2. Was seitdem stabil bleibt
„In einigen grundlegenden Fragen ist das Meinungsbild in diesem Jahr erstaunlich konstant geblieben“, sagt Christopher Wratil, der an der Uni Wien zur öffentlichen Meinungsbildung forscht. Sowohl bei Sanktionen gegen Russland als auch bei Waffenlieferungen an die Ukraine und einer EU-Mitgliedschaft für das Land gibt es in Deutschland eine klare und stabile Mehrheit für eine aktive Unterstützung der Ukraine. Nach einigen Wochen scheinen die meisten ihre grundlegende Haltung zum Krieg gefunden zu haben. „Oft stabilisieren sich diese Meinungen mit der Zeit weiter, beispielsweise, weil Menschen das Bedürfnis nach Konsistenz haben, sich nicht selbst widersprechen wollen“, sagt Wratil.
Stabil ist dabei auch der Wunsch nach mehr diplomatischen Bemühungen. Dabei sehen viele Deutsche das nicht als Alternative zu militärischer Unterstützung, sondern wollen beides: Im Februar 2023 gibt es sowohl unter jenen, die die Waffenlieferungen für angemessen halten (44 Prozent), als auch bei denen, die sich mehr Waffen wünschen (15 Prozent), jeweils eine absolute Mehrheit (54 bzw. 55 Prozent) für mehr Diplomatie. Demoskop Heinrich sagt: „Offensichtlich ist den Deutschen klar, dass sich diese beiden Dinge nicht ausschließen, auch wenn die öffentlichen Debatten manchmal anderes vermuten lassen.“
Der Anteil derjenigen, die sich weniger Waffenlieferungen wünschen, ist zuletzt etwas gestiegen, von 26 auf 35 Prozent. „Ein Teil der Bevölkerung ist skeptisch“, sagte Kanzler Olaf Scholz diese Woche bei seinem Auftritt bei Maybrit Illner und bemühte sich, auch dieses Drittel anzusprechen. DIE ZEIT hat ihnen zuletzt ihre Titelgeschichte zum Jahrestag des Kriegsbeginns gewidmet.
3. Wo und warum die Deutschen sich umentschieden
Bei einigen konkreten Sachfragen hat sich die Meinung der Deutschen schnell und deutlich verändert. Bei der Debatte um einen Gaslieferstopp aus Russland beispielsweise oder der Lieferung von Leopard-2-Panzern an die Ukraine. Hierbei handelt es sich um das, was Wratil hard issues nennt: Fragen, zu denen die meisten keine gefestigte Meinung haben, weil sie ihnen zu fremd und technisch sind und weil sie nicht schon seit Jahren öffentlich verhandelt werden. Wer wusste vor diesem Januar schon, welche Rolle bestimmte deutsche Panzertypen in einem Landkrieg spielen können? In solchen Fragen suchen Menschen nach „Abkürzungen“, wie Wratil sagt: Sie orientieren sich an Personen, die sie sympathisch finden, oder Institutionen, denen sie vertrauen. Politik und Medien haben hier also einen besonders großen Einfluss.
Besonders deutlich zu erkennen ist das an der Leopard-Frage: Hier haben sich innerhalb von zwei Wochen die Mehrheitsverhältnisse gedreht. War Mitte Januar nur eine Minderheit von 42 Prozent für die Lieferung, so stieg dieser Wert in 14 Tagen auf 54 Prozent. Was war passiert? Der Kanzler hatte sich in der Zwischenzeit entschieden und der Lieferung zugestimmt. Viele Deutsche sind ihm offenbar gefolgt. Besonders deutlich war der Umschwung bei den Anhängerinnen und Anhängern von Grünen (25 Prozentpunkte) und SPD (21 Prozentpunkte). Sie scheinen die Einschätzung der Regierung und des Kanzlers besonders zu achten, wohingegen sich bei den Anhängerinnen und Anhängern der dritten Koalitionspartei, der FDP, durch die Regierungsentscheidung nichts änderte.
Ein weiterer Grund für solche Veränderungen kann laut Wratil sein, „dass die Menschen gern zur Mehrheit gehören wollen“. Wenn sich eine Meinung öffentlich und politisch durchzusetzen scheint, schwenken allein schon deshalb viele darauf um – zumindest in so schwierigen fernen Fragen wie der Panzerlieferung. Man könne das sogar als Zeichen für demokratisches Vertrauen interpretieren, findet er. „Es ist für die Akzeptanz demokratischer Entscheidungen erst mal vorteilhaft, wenn Menschen annehmen, dass die Masse richtige Entscheidungen trifft.“
4. Wer anders denkt
So beständig das Meinungsbild in den grundlegenden Fragen ist, so beständig sind auch die Unterschiede innerhalb der Bevölkerung: Die Ostdeutschen sind bei Waffen und Sanktionen viel skeptischer als die Westdeutschen. Im Osten hat auch die Entscheidung von Kanzler Scholz für die Leopard-Lieferung keinen messbaren Einfluss auf das Meinungsbild gehabt. Der Regierungschef scheint hier weniger Autorität zu haben oder die Ostdeutschen sind ihrer Panzer-Meinung schon gefestigter gewesen – oder beides.
So bekannt diese Ost-West-Unterschiede mittlerweile sind, so wenig wird über eine andere Auffälligkeit gesprochen: Die Jungen sind in militärischen Fragen viel zurückhaltender. Einer relativen Mehrheit von 47 Prozent der 18- bis 34-Jährigen gehen die Waffenlieferungen mittlerweile zu weit. Bei den Älteren sind diese Werte viel niedriger. Bei den Sanktionen gegen Russland ist das Bild ähnlich.
5. Wie es weitergehen könnte
Je länger der Krieg dauert, desto weniger hängen die Meinungen von Umständen und Einflüssen ab. Forscher Wratil glaubt zwar: „Wenn Scholz sich morgen für Kampfflugzeuge aussprechen würde, würde auch die Zustimmung in der Bevölkerung steigen.“ Aber: „Solche Effekte werden schwächer, je mehr Gedanken sich die Bevölkerung zu einem Themenkomplex bereits gemacht hat.“ Irgendwann könnte sich gar die Situation einstellen, dass die Deutschen von ihrer Sicht auf den Krieg so überzeugt sind, dass sie sich darin auch von Kriegsereignissen oder dem Kanzler kaum noch beeinflussen lassen. „Dann würde der Prozess immer weniger von oben nach unten verlaufen und stärker von unten nach oben“, sagt Wratil. Heißt: Nicht mehr politische und sonstige Autoritäten prägen die Meinung der Bevölkerung, sondern die verfestigten Meinungen der Menschen prägen den Spielraum der Politik und schränken ihn ein.
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