Bildungsgesetz Nr. 2145-VІІІ. Hinter dieser Nummer verbirgt sich ein Reformpaket, das eine Staatskrise auslösen könnte. Es ist eine Reform, die den Weg für die „neue ukrainische Schule“ eröffnen soll. Lehrer sollen in Zukunft nicht nur mehr Geld, sondern auch mehr Freiheit für Kreativität und neue Ansätze beim Unterrichten bekommen, Schüler mehr Leistung, Kinder mit Behinderungen Zugang zu allgemeinbildenden Schulen. Doch in den Statuten des Gesetztes Nr. 2145-VІІІ verbirgt sich noch ein zusätzlicher Paragraf, der Sprengstoff birgt: Ab 2018 erfolgt der Unterricht ab der fünften Klasse nur noch auf Ukrainisch. Andere Sprachen können nur noch im Fachunterricht erlernt werden.

Stückweise wird die Rolle von anderen Sprachen zurückgedrängt. Bisher gab es Schulen, in denen der Unterricht komplett in der Sprache der Volksminderheiten durchgeführt wurde. Nun wird das in einem ersten Schritt nur noch in Grundschulen erlaubt sein. Bis zur fünften Klasse werden die Kinder verpflichtet, Ukrainisch zu lernen. Ab 2020 entfällt auch diese Regelung. Ab dann wird Ukrainisch zur Pflichtsprache für alle Schulen.

Damit macht Kiew ein Pulverfass auf. Denn mindestens 30 Prozent der Bevölkerung haben eine andere Muttersprache, meist Russisch, aber auch Rumänisch, Polnisch – oder auch Ungarisch.

„Wir garantieren, dass dieser Schritt die Ukraine teuer zu stehen kommen wird“

Im Südwesten des Landes liegt Transkarpatien, auch die Karpatenukraine genannt. Im Flachland an der Grenze zu Ungarn leben hier nach offiziellen Statistiken 150.000 Menschen, die der ethnischen Volksgruppe der Ungarn angehören. Das sind mehr als zwölf Prozent der Gesamtbevölkerung der Region, die sich auf etwa 1,2 Millionen beläuft. 

Die Ungarn stellen die größte Minderheit in Transkarpatien da. Sie sprechen, schreiben und denken auf Ungarisch. Seit Jahrhunderten. Ihre Häuser zieren ungarische Flaggen. Einige der transkarpatischen Ungarn waren noch nie in Kiew, aber dafür umso öfter im benachbarten Ungarn. In 71 Schulen der Region findet der komplette Unterricht auf Ungarisch statt. 

Doch das Gesetz Nr. 2145-VІІІ beendet nun diese Praxis. Budapest reagiert mit Protest. „Beschämend und beleidigend“, nannte der ungarische Außenminister Peter Szijjártó das Vorhaben und kündigte umgehend Konsequenzen an. „Ungarn wird alle Schritte innerhalb der Europäischen Union blockieren, die einen Fortschritt im Progress der Integration der Ukraine in die EU bedeuten würden“, hieß es in einer Mitteilung. Mehr noch: Man wolle auch daran arbeiten, dass bereits bestehende Vereinbarungen aufgelöst werden, so zum Beispiel das visumfreie Reisen in der Schengen-Zone, auf das die Regierung in Kiew so stolz sei. „Wir garantieren, dass dieser Schritt die Ukraine teuer zu stehen kommen wird.“

Willkommen im Wahlkampf

Das Bildungsgesetz hat der ukrainische Präsident Petro Poroschenko bereits im September vergangenen Jahres unterzeichnet. Doch an Brisanz gewinnt es erst jetzt. Denn in Ungarn stehen bald Wahlen statt. Am 8. April wählt man an der Donau ein neues Parlament. Und der entbrannte Konflikt mit der Ukraine kommt einigen gerade recht. Gleich mehrere politische Parteien befeuern nun die separatistischen Kräfte im Nachbarland.

Die rechtsextreme Jobbik-Partei führte etwa bereits im vergangenen Oktober vor der ukrainischen Botschaft in Budapest eine Demonstration unter dem Titel „Selbstbestimmung für Transkarpatien“ durch. Sie würden für die „Selbstbestimmung Transkarpatiens und die Freiheit der russischen, polnischen, bulgarischen, rumänischen und armenischen nationalen Gemeinden, die auf dem Territorium der derzeitigen Ukraine leben“ eintreten, erklärten die Organisatoren. Weitere Aktionen sind geplant.

Im März 2014, als Russland die Halbinsel Krim annektiert hatte, führten die Rechtsextremen eine ähnliche Aktion zur Unterstützung der separatistischen Bewegungen auf der Krim und im Donbass durch. Jobbik versteht sich selbst als „werteorientierte, konservative, aber radikal agierende, christliche und patriotische“ Partei und ist derzeit die drittstärkste Kraft im ungarischen Parlament. Bei den Wahlen 2014 gewannen die Nationalisten 20,5 Prozent der Stimmen.

Tricks aus dem Kreml

Auch die konservative Fidesz, die Partei des regierenden Ministerpräsidenten Viktor Orban, schwingt sich zur Beschützerin der ungarischen Minderheit in der Ukraine auf. Bei seinem letzten Besuch in Transkarpatien weigerte sich der ungarische Außenminister Szijjártó schlicht, sich mit seinem ukrainischen Kollegen Pavel Klimkin zu treffen. In Kiew wertete man diesen Schritt als eine ernsthafte Verletzung der diplomatischen Etikette.

„In Ungarn stehen bald Wahlen an und einige Politiker nutzen den Protektionismus über die Bevölkerung, die Ungarisch spricht, im Ausland als einigenden Trumpf in der Innenpolitik“, kommentierte die Vize-Sprecherin der ungarischen Rada, Irina Geraschtschenko, die Strategie in Budapest. „Ein spezieller Trumpf, den man sich im Kreml abgeschaut hat.“

Folgt Transkarpatien der Krim und dem Donbass?

Sie ist nicht die einzige, die Parallelen zwischen den aktuellen Entwicklungen in Transkarpatien und den Zuständen im Osten des Landes zieht, die noch vor wenigen Jahren dort geherrscht haben. „Die Regierung in Kiew täuscht sich, wenn sie denkt, die Ukraine sei der Staat einer Nation. Der Wunsch der Menschen in der Ostukraine, auf Russisch zu sprechen und ihre Kinder auf Russisch zu unterrichten, war ebenso selbstverständlich wie der Wunsch in Transkarpatien die Schulbildung auf Ungarisch, Rumänisch und Polnisch fortzusetzen“, schätzt der politische Analyst Dmitrij Melnikow die Situation im Gespräch mit der russischen unabhängigen Online-Zeitung „Gazeta.ru“ ein.

„Für mich ist es absolut unverständlich, warum die Regierung dies auf einmal als gefährlich einschätzt und einen Kampf gegen das eigene Volk aufnimmt. Aber nun besteht das Risiko, dass nach der Krim und dem Donbass auch Transkarpatien sich von der Ukraine abspaltet“, so der Experte. 

„Die Ukraine ist in Transkarpatien praktisch nicht vorhanden“

Auch der ukrainische Politologe Michail Pogrebinskij ist überzeugt, dass Transkarpatien sich schon immer als ungarisch betrachtet hat. Das Verbot des Unterrichts auf Ungarisch verhindere diese Tendenz nicht. Im Gegenteil: Es verstärke nur die separatistischen Neigungen.

Die Ukraine wolle natürlich die separatistischen Tendenzen in Transkarpatien stoppen, sehe aber einfach keinen anderen Weg, als die Leute dazu zu bringen, Ukrainisch zu lernen. „Die Ukraine ist einfach zu schwach, um Ungarn lange zu trotzen. Die Ukraine ist ein schwacher Staat und in Transkarpatien praktisch nicht vorhanden“, so der Polit-Experte. Dennoch hält es Pogrebinskij für unwahrscheinlich, dass Ungarn die Region irgendwann für sich beansprucht. 

Zuspitzung statt Annäherung

In Kiew ist man sich da nicht ganz so sicher. Der ukrainische Militärexperte Alexej Arestowitsch ist überzeugt, dass nach den neusten Ereignissen Ungarn für die Ukraine eine militärische Bedrohung darstellen wird – und das in den nächsten 20 Jahren.

Auch der ukrainische stellvertretende Außenminister Vadim Pristaiko gab bekannt, dass Ungarn die Absicht erklärt habe, „bis ans Ende zu gehen, um die Interessen der transkarpatischen Ungarn“ zu verteidigen. „Es gibt weder eine Annäherung noch eine Bereitschaft zu bilateralen Vereinbarungen“, sagte er.

Dies gilt sowohl für Ungarn, als auch für die Ukraine. Während man in Budapest das separatistische Feuer in Transkarpatien schürt, arbeitet man in Kiew weiter an einer Verdrängung von Minderheitensprachen aus dem öffentlichen Leben. Die Rada bereitet ein Gesetz vor, das eine ukrainische Synchronisation von Filmen und Theaterstücken verpflichtend machen soll. Auch Zeitungen, die bislang in einer anderen Sprache publiziert wurden, sollen demnächst auch auf Ukrainisch erscheinen. 

Kritik auch aus anderen Ländern

Nicht nur in Ungarn stößt die ukrainische Schulreform auf erheblichen Widerstand. Klaus Iohannis, der Präsident Rumäniens, erklärte nach der Verabschiedung „sehr, sehr unangenehm überrascht“ über das Gesetz zu sein. Er lud den ukrainischen Präsidenten, dessen Besuch in Bukarest kurz bevorstand, kurzerhand aus.

Auch Polen reagierte pikiert. Ein Racheakt ließ nicht lange auf sich warten. Am 6. Februar unterzeichnete der polnische Präsident Andrzej Duda das sogenannte Holocaust-Gesetz. Dieses stellt das Leugnen von Verbrechen, die vom 8. November 1917 bis zum 31. Juli 1990 nicht nur von Nazis und Kommunisten, sondern auch von „ukrainischen Nationalisten und Mitgliedern der ukrainischen Formationen, die mit dem Dritten Reich kooperierten“ verübt wurden, unter Strafe. In Russland ist nach dem Bildungsgesetz ohnehin längst von einem Kreuzzug gegen die russische Sprache die Rede.

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