Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,“Europa ist wie ein Fahrrad. Hält man es an, fällt es um.“ So lautet ein berühmter Satz von Jacques Delors, dem früheren Präsidenten der EU-Kommission und Vordenker des europäischen Binnenmarktes und des Euros.Für Delors sollte die Europäische Union immer in Bewegung bleiben. Die Entscheider – in dem Bild die Radfahrer – müssen also immer in die Pedale treten und sich den Gegebenheiten anpassen: Gegenwind kommt mal von links, mal von rechts, mal geht es bergauf, mal bergab. Das kennen Radfahrer genauso gut wie Politiker.Ich musste in diesen Tagen wieder an dieses Zitat von Delors denken. Nicht nur, weil er Ende Dezember im Alter von 98 Jahren verstorben ist und es gestern Abend in Brüssel eine Gedenkfeier für ihn gab. Sondern auch, weil ich mir nicht sicher bin, wie gut das europäische Fahrrad gerade fährt.Das liegt vor allem wieder an Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orbán, der gerne mal die Luft aus den Reifen lässt. Schon längst hätten die EU-Institutionen darauf reagieren müssen, stattdessen haben sie seinem Treiben viel zu lange zugesehen. Jetzt könnten sie zu besonders drastischen Mitteln greifen – mit ungewissem Ausgang.Heute kommen die 27 Staats- und Regierungschefs der EU zu ihrem ersten Gipfel des Jahres in Brüssel zusammen. Das größte Thema hat sich seit dem letzten Treffen im Dezember nicht geändert: Die EU-Lenker wollen ein 50-Milliarden-Euro-Paket für die Ukraine beschließen, das das Land in den kommenden vier Jahren erhalten soll.In Zeiten von ausbleibenden Hilfen aus den USA wäre das Paket ein wichtiges Signal der Unterstützung. Mit dem Geld könnten viele ukrainische Beamte weiter bezahlt werden, die das kriegsgebeutelte Land am Laufen halten. Aber auch für die EU wäre es ein wichtiges Zeichen, da man sich bei der militärischen Unterstützung zuletzt gehörig verkalkuliert hat: Bis März wollte die Union gemeinsam eine Million Artilleriegeschosse liefern. Doch gestern musste der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell einräumen, dass man bis dahin nur etwas mehr als die Hälfte zusammenbekommen wird. Immerhin kündigte er zusätzlich noch an, die Militärhilfen in diesem Jahr auf mindestens 21 Milliarden Euro aufzustocken.Orbán hatte die 50 Milliarden Euro im Dezember blockiert. Und auch heute hat er wieder Einwände. Das gesamte Geld für ganze vier Jahre will er nicht durchwinken. Stattdessen soll jedes Jahr neu abgestimmt werden. Da in dieser Frage Einstimmigkeit unter den 27 EU-Staaten herrschen muss, bedeutet das: Orbán könnte jedes Jahr wieder sein Veto einlegen. Seinen Ruf als Quertreiber in der EU hat sich der Ungar in den vergangenen Jahren hart erarbeitet. Seit er 2010 Regierungschef in seiner Heimat ist, hat er den ungarischen Rechtsstaat kontinuierlich abgebaut und das Wahlsystem auf sich und seine Partei zugeschnitten. Ausländische Unternehmen sollen mittlerweile immer stärker unter Druck gesetzt werden, ihre ungarischen Geschäfte an einheimische Oligarchen zu verkaufen. Die Konsequenz: Im jüngsten Korruptionsindex von Transparency International liegt Ungarn auf dem letzten Platz in der EU, bei der Pressefreiheit nur knapp vor den Kleinststaaten Zypern und Malta.Grundsätzlich sieht die EU Orbáns Treiben nicht tatenlos zu. Gegen Ungarn wurde bereits der sogenannte Rechtsstaatsmechanismus eingeleitet: Ländern, die die Demokratie aushöhlen, können dadurch EU-Gelder gekürzt werden. Mindestens 12 Milliarden Euro wurden so schon eingefroren, die eigentlich von Brüssel nach Budapest wandern sollten.Besonders konsequent ist das Vorgehen allerdings nicht; vor allem deshalb, weil der Geldhahn nicht gänzlich abgedreht wurde. Erst kurz vor dem vergangenen Gipfel machte die EU-Kommission plötzlich den Weg für neue 10 Milliarden Euro an Ungarn frei. Offiziell hieß es, die Gelder seien ausgezahlt worden, weil Ungarn Fortschritte in der Rechtsstaatlichkeit erzielen konnte. Hinter vorgehaltener Hand wird dagegen spekuliert, dass mit dem Geld schon damals versucht wurde, Orbáns Zustimmung für die Ukraine-Hilfen zu erkaufen. Möglicherweise könnte der Kommission von Präsidentin Ursula von der Leyen deshalb noch eine Klage durch das EU-Parlament drohen.Sie merken es: Die EU könnte sich an der Stelle verzettelt haben. Dabei ist der Ansatz nicht falsch: Orbán lässt sich nicht durch große Reden oder Kritik von außen beeindrucken. Denn zu Hause muss er keine großen Widerworte fürchten – weder von der zerstrittenen Opposition noch von der größtenteils auf Linie gezogenen Medienlandschaft. Sein Schwachpunkt bleibt die Brieftasche.Trotz Sanktionen zählt Ungarn zu den EU-Staaten, die am meisten Geld aus Brüssel erhalten. Doch genau das könnte sich bald radikal ändern: Die „Financial Times“ enthüllte zuletzt ein internes Papier aus EU-Kreisen, dass bei einem Veto erwogen wird, sämtliche Zahlungen einzustellen. Doch damit nicht genug: Vor dem Gipfel wird öffentlich darüber spekuliert, Orbán das Stimmrecht im Rat der Staats- und Regierungschefs künftig vollständig zu entziehen.Beide Maßnahmen wären schon für sich alleine betrachtet äußerst schwere Geschütze und nicht ohne Risiko: Ein Stopp aller Gelder könnte die ohnehin schon angeschlagene ungarische Wirtschaft in eine solche Schieflage versetzen, dass sich die Maßnahme letztendlich zu einem Bumerang innerhalb der EU entwickeln könnte. Vielleicht erinnern Sie sich ja noch an die Eurokrise vor 14 Jahren.Und Ungarn das Stimmrecht entziehen? Wer über die vielen Verfehlungen Orbáns nachdenkt, könnte diesen Schritt für überfällig halten. „Das ist das schärfste Schwert, das die Europäische Union hat, und ganz offensichtlich ist jetzt der Zeitpunkt, es zu ziehen“, sagte etwa SPD-Europapolitikerin Katarina Barley jüngst dem Deutschlandfunk. Wer dieses Schwert allerdings zieht, sollte auch die Konsequenzen bedenken. Es würde wohl den endgültigen Bruch zwischen Ungarn und der EU bedeuten. Viktor Orbán würde sich wohl noch stärker Richtung Russland orientieren. Er könnte auch weiter die Rolle spielen, die er am liebsten besetzt: die des Rebellen gegen das von ihm verhasste Brüssel.Die Gedankenspiele zeigen: Eine einfache Lösung gibt es ab diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr. Um dem aktuellen Szenario zu entgehen, hätte die EU schon vor Jahren Orbán die Grenzen aufzeigen müssen. Jetzt bleibt nur die Wahl zwischen mehreren eher halb guten Lösungen.Seinem Demokratieabbau fügt die ungarische Regierung übrigens gerade ein weiteres Kapitel hinzu. Just am heutigen Tag nimmt in Budapest eine neue Behörde ihre Arbeit auf, die das Land vor Organisationen schützen soll, „die Finanzmittel aus dem Ausland erhalten und darauf abzielen, den Wählerwillen zu beeinflussen“, heißt es dazu in dem beschlossenen Gesetz. Kritiker befürchten, dass damit vor allem Nichtregierungsorganisationen und die verbliebenen freien Medien mundtot gemacht werden könnten. Eine Praxis, die man so ähnlich bereits aus dem Russland von Wladimir Putin kennt.Schlagabtausch im BundestagEs war ein wenig verkehrte Welt im Bundestag. Da begann doch Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) die Generaldebatte fast so staatstragend, als wäre er der Bundeskanzler Deutschlands. Zunächst dankte Merz den Rednern, die anlässlich des Holocaust-Gedenkens zuvor im Bundestag eindrückliche Worte gesprochen hatten, ehe er dann die Bundesregierung und Kanzler Olaf Scholz in für seine Verhältnisse noch moderaten Tönen kritisierte.Ganz anders dann der Kanzler: Scholz nannte Merz nicht nur eine „Mimose“, sondern attestierte dem CDU-Chef auch ein „Glaskinn“, weil er mit Kritik nicht richtig umgehen könne. Für Scholz waren es ungewohnt emotionale Worte.Sicher, solche Scharmützel sagen alleine noch nichts über Politik aus. Am Ende kommt es darauf an, was eine Regierung in der Sache leisten kann. Trotzdem tun solche Streitigkeiten unter Demokraten auch gut, das sollte uns die Vergangenheit gelehrt haben.Im Visier der alten KollegenEs ist noch gar nicht so lange her, da war Hans-Georg Maaßen ein wichtiger Mann im deutschen Sicherheitsapparat. Insgesamt sechs Jahre lang war er Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, des deutschen Inlandsgeheimdienstes. Seine Aufgabe? Nichts weniger als die Sicherung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in Deutschland.Mittlerweile haben sich die Aufgabenbereiche von Maaßen verschoben. Das Amt leitet er schon länger nicht mehr, seiner Partei, der CDU, hat er abgeschworen und will stattdessen mit der Werteunion als neue Partei durchstarten. Und der Verfassungsschutz hat Maaßen mittlerweile als Extremisten auf seinem Radar. Das hat t-online gemeinsam mit dem ARD-Politikmagazin „Kontraste“ herausgefunden. Die gesamte Recherche lesen Sie hier.Gegenüber unserer Redaktion wollte sich Maaßen nicht äußern. Auf der Plattform X (ehemals Twitter) vermutete er jedoch, dass die Bundesregierung offenbar Angst vor ihm und der Werteunion habe. Erste Politiker fordern jetzt, Maaßens Zeit beim Verfassungsschutz genauer zu überprüfen. Der 61-Jährige schreitet unterdessen rasch mit der Parteigründung voran: Für Mitte Februar ist der Gründungsparteitag geplant.OhrenschmausSie wollen heute beschwingt in den Februar starten? Vielleicht hilft Ihnen dieses Lied dabei. Dazu gibt es gleich auch noch eines der besten Videos aller Zeiten.Das historische BildLange mussten sich die Schweizerinnen gedulden, bis sie endlich das Wahlrecht erhielten. Wann es so weit war, lesen Sie hier.LesetippsDer ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj soll Gerüchten zufolge erfolglos versucht haben, seinen beliebten Befehlshaber Walerij Saluschnyj zu entlassen. Was dahinter steckt, hat sich mein Kollege Patrick Diekmann angeschaut.Die Bezahlkarte für Asylbewerber soll bald kommen. Die Politik feiert einen „Meilenstein“ – Experten aber sind skeptisch, schreibt Annika Leister.Die „Letzte Generation“ will künftig auf Klebeproteste verzichten. Straßenblockaden soll es aber weiter geben. Wie sich die Aktivisten das vorstellen, hat mein Kollege Lucas Maier mit einer der Aktivistinnen besprochen.Im Januar ist die Inflationsrate auf 2,9 Prozent gefallen. Was das bedeutet und wie es nun weitergeht, erklärt der Ökonom Sebastian Dullien meinem Kollegen Florian Schmidt.Zum SchlussIch wünsche Ihnen einen angenehmen Donnerstag. Morgen lesen Sie an dieser Stelle von Florian Harms. Herzliche GrüßeIhrDavid SchafbuchStellvertretender Ressortleiter Politik & WirtschaftX/Twitter: @SchubfachE-Mail: [email protected] Material von dpa.Den täglichen Newsletter können Sie kostenlos hier abonnieren.Alle Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier. Alle Nachrichten lesen Sie hier.

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