Berlin – Angesichts einer dramatischer werdenden Corona-Lage ringt die Politik um schnelle Gegenmaßnahmen. An diesem Donnerstag will der Bundestag über die von den mutmaßlichen künftigen Regierungsfraktionen SPD, Grüne und FDP ausgearbeiteten neuen Corona-Maßnahmen abstimmen.
Große Kritik an den Plänen kommt von der Union. Sie droht damit, dem Regelwerk am Freitag im Bundesrat die nötige Zustimmung zu verweigern, weil es ihrer Ansicht nach nicht weit genug geht. Am Donnerstagmittag beraten zudem die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten mit der geschäftsführenden Kanzlerin Angela Merkel (CDU) über das weitere Vorgehen bei Corona. Dabei soll es um eine einheitliche Linie etwa bei Zugangsregeln, Alarmschwellen der Klinikbelastung und mehr Impfungen gehen.
Wieler zeichnet dramatisches Bild der Lage
Der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, zeichnete am Mittwochabend ein dramatisches Bild der aktuellen Corona-Lage in Deutschland. Die Zahlen gingen steil nach oben, sie seien höher als bekannt: «Die Untererfassung der wahren Zahlen verstärkt sich», sagte er bei einer Online-Diskussionsveranstaltung. Hinter den mehr als 50.000 Infektionen, die derzeit pro Tag registriert würden, «verbergen sich mindestens noch einmal doppelt oder dreimal so viele». Wieler sprach sich unter anderem dafür aus, auch Apotheker impfen zu lassen. «Wir sind in einer Notlage, und in einer Notlage muss man bestimmte Dinge großzügig gestalten.»
Neues Regelwerk soll zügig kommen
Vor diesem Hintergrund wollen die Ampel-Fraktionen zügig das neue Regelwerk in Kraft setzen. Es sieht etwa vor, dass Fälschern von Corona-Tests, Genesenen- oder Impfnachweisen im schlimmsten Fall bis zu fünf Jahren Gefängnis drohen. Wer Busse, Bahnen und hierzulande startende Flugzeuge nutzt, muss demnach künftig nachweisen können, dass er geimpft, genesen oder getestet ist – Ausnahmen gibt es unter anderem für Kinder. Zugang zu Pflegeheimen, Kliniken und Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen sollen Beschäftigte und Besucher nur mit einem tagesaktuellen negativen Test bekommen.
Die Länder sollen – wenn es ihr Parlament beschließt – weiter harte Maßnahmen ergreifen können, etwa Einschränkungen und Verbote von Veranstaltungen in Freizeit, Kultur und Sport. Gottesdienste und Tourismus etwa sollen nicht mehr eingeschränkt werden.
Wüst: «Sind nahe am dem Punkt, an den wir nie kommen wollten»
Damit wollen SPD, Grüne und FDP eine Rechtsgrundlage für Auflagen vor Ort schaffen, wenn die bisher vom Bundestag festgestellte «Epidemische Lage von nationaler Tragweite» zum 25. November ausläuft. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) bekräftigte am Mittwochabend in den ARD-«Tagesthemen» seine Kritik. «Wir sind in dieser Pandemie so nahe an dem Punkt, an den wir nie kommen wollten, nämlich dass in Krankenhäusern entschieden werden muss, wer noch behandelt wird», sagte er. Man brauche den «vollen Instrumentenkasten», um die Menschen zu schützen, meinte Wüst, der Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz ist.
Die Union ist derzeit an 10 von 16 Landesregierungen beteiligt und könnte mit ihren Stimmen im Bundesrat eine Zustimmung verhindern. Wüst ließ am Mittwochabend offen, ob die Union die Gesetzespläne in der Länderkammer wirklich blockieren wird. «Wir wollen jetzt erst einmal abwarten, was der Bundestag beschließt.» Grünen-Chef Robert Habeck sagte am Mittwochabend in der Sendung «RTL Aktuell Spezial»: «Wenn dieser Gesetzentwurf im Bundesrat blockiert wird, haben wir keine gesetzliche nationale Grundlage mehr, dann fallen wir zurück auf den Stand vor der Pandemie.» Die Zahl der Infektionen sei so hoch, «dass es unvermeidbar sein wird, dass in ungefähr 14 Tagen das Krankenhaussystem in Deutschland überlastet ist».
Heil warnt vor Blockade
Der geschäftsführende Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat vor einer Blockade der geplanten Corona-Maßnahmen im Bundesrat gewarnt. «Es ist nicht die Zeit für parteipolitische Spielchen. Heute im Bundestag und auch in der Ministerpräsidentenkonferenz tragen alle Verantwortung, die Demokraten sind, dass jetzt das Richtige getan wird. Es ist höchste Eisenbahn», sagte Heil am Donnerstag im ZDF-«Morgenmagazin». Das Gesetz, das nun auf den Weg gebracht werde, gebe alle möglichen Instrumentarien an die Hand, um die derzeitige Corona-Welle zu brechen.
Vorwürfe an angehende Ampel-Regierung
CDU-Bundesvize Thomas Strobl warf der angehenden Ampel-Regierung vor, auf die ungebremst steigenden Corona-Infektionszahlen viel zu spät reagiert zu haben. «Wertvolle Zeit wurde vergeudet, und ein schwerwiegender Fehler aus dem vergangenen Jahr wird sehenden Auges wiederholt: Es werden schärfere Einschnitte notwendig, als wenn rechtzeitig gehandelt worden wäre», sagte der baden-württembergische Innenminister und CDU-Landeschef der Deutschen Presse-Agentur in Stuttgart. Der geschäftsführende Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) forderte die Ampel-Parteien abermals auf, die epidemische Lage nationaler Tragweite doch noch zu verlängern. «Das gäbe den Ländern alle Möglichkeiten für den Fall noch höherer Inzidenzen», sagte Braun dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Stracke: Pläne würden Dramatik der Lage nicht gerecht
Unionsfraktionsvize Stephan Stracke hat die Pläne von SPD, Grünen und FDP in der Corona-Krise scharf kritisiert. Diese würden der Dramatik der Lage nicht gerecht, sagte der CSU-Politiker am Donnerstag im Bundestag. Die vierte Welle habe Deutschland mit voller Wucht erfasst, das Land stehe vor einem schweren Winter. Krankenhäuser stießen in weiten Teilen bereits an Grenzen. In dieser Lage sei es ein Fehler, die bisher vom Bundestag festgestellte «Epidemische Lage von nationaler Tragweite» am 25. November auslaufen zu lassen. Die Pläne von SPD, Grünen und FDP sollen eine andere Rechtsgrundlage für Auflagen schaffen.
Die Ampel-Koalition mache damit ihren ersten Fehler. Der Maßnahmenkatalog würde mit den Plänen verkürzt werden. «Das kann nicht gut gehen», sagte Stracke. Es sei eine enge Abstimmung zwischen Bund und Ländern notwendig, die Beratungen am Donnerstag kämen viel zu spät, dies habe die Ampel verhindert.
SPD verteidigt geplante Corona-Neuregelungen
Die SPD hat die geplanten Corona-Neuregelungen der voraussichtlichen Ampel-Regierungspartner gegen Kritik verteidigt. «Wir reagieren mit notwendigen und rechtssicheren Maßnahmen auf die sehr schwierige Corona-Lage», sagte SPD-Gesundheitsexpertin Sabine Dittmar am Donnerstag im Bundestag. Die Länder bekämen damit mehr Handlungsmöglichkeiten als mit der noch geltenden Rechtslage. Dazu gehörten weiterhin auch Möglichkeiten, dass Gesundheitsämter bei konkreten Ausbrüchen einzelne Schließungen anordnen könnten.
Unterdessen warnte Kassenärzte-Chef Andreas Gassen vor Panikmache. «Die Lage ist schwierig, aber für Panik besteht kein Anlass», sagte Gassen dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. «Insbesondere von einigen Politikern und Experten wird versucht, die Ampel-Parteien mit düsteren Szenarien und fast schon hysterisch anmutenden Warnungen extrem unter Druck zu setzen», meinte er. Bisher hätten SPD, Grüne und FDP aber einen kühlen Kopf bewiesen.
Gassen: «Es gibt insgesamt noch ausreichend Reserven»
«Es bleibt richtig, die pandemische Notlage aufzuheben, weil die Regelungen nicht länger vor Gerichten standgehalten hätten», meinte Gassen. Die Krankenhäuser seien ebenso wie die Praxen seit Monaten stark belastet. «Es besteht aber derzeit wohl nicht die Gefahr, dass die Kliniken in ihrer Gesamtheit an ihre Leistungsgrenze stoßen.»
Die Belegungszahlen seien nach wie vor niedriger als zum Höhepunkt der dritten Corona-Welle. «Es gibt insgesamt noch ausreichend Reserven», meinte er. «Wenn die Krankenhäuser jetzt wieder planbare Operationen verschieben, dann ist das eine reine Vorsichtsmaßnahme, um mehr freie Betten bereitzustellen.»
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