Religiöse Extremisten wagen in Pakistan den Aufstand gegen Staat und Regierung. Seit drei Wochen blockieren sie eine Kreuzung in Pakistans Hauptstadt Islamabad, an einer der wichtigsten Ausfallstraßen, die die Stadt mit dem Flughafen verbindet. Jetzt spitzt die Lage sich zu: Als die Polizei am Samstag anrückt, werfen sie Steine und Brandsätze, errichten Barrikaden aus brennenden Autos und Autoreifen und rufen religiöse Parolen.
Seither versuchen die Sicherheitskräfte, den Protest aufzulösen. Am Samstagabend greifen Soldaten ein, das Innenministerium hatte offiziell um einen Einsatz des Militärs gebeten. Bei den Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten sterben sechs Menschen, allesamt Demonstranten. Etwa 200 Menschen werden verletzt. Am Sonntag dauern die Kämpfe an. Inzwischen werden Proteste aus mehreren pakistanischen Städten gemeldet, darunter aus den beiden größten Metropolen Karatschi und Lahore.
Was jetzt zu einer Staatskrise zu drohen wird, begann mit einer zunächst banal wirkenden Angelegenheit. Vor zwei Monaten, im September, wurde das Formular, das Kandidaten für eine Parlamentswahl unterschreiben müssen, überarbeitet. Der Satz „Ich schwöre feierlich, dass ich an die absolute und uneingeschränkte Prophetenschaft Mohammeds (Friede sei mit ihm) glaube (…)“ wurde leicht verändert. Er beginnt nun mit den Worten: „Hiermit erkläre ich, dass ich an die absolute und uneingeschränkte Prophetenschaft Mohammeds glaube (…)“. Der Schwur ist verschwunden, aus einem Eid wurde eine Erklärung. Außerdem wurde dieser Satz in dem Formular weiter nach hinten verschoben.
„Klerikaler Fehler“
Die Änderungen waren von Justizminister Zahid Hamid als „Vereinfachung“ vorgeschlagen und vom Parlament beschlossen worden. Die religiösen Kräfte im Land, die zwar kaum im Parlament vertreten sind, aber doch großen Einfluss in der Gesellschaft haben, sahen darin einen Angriff auf den Propheten – und riefen zum Widerstand auf.
Sie verbreiteten fälschlicherweise, die Regierung habe den Satz vollständig gestrichen. Dem Justizminister unterstellten die Mullahs ein Entgegenkommen gegenüber den Ahmadis, Mitglieder einer großen Minderheit in Pakistan, die sich selbst als Muslime bezeichnen, aber von der pakistanischen Verfassung zu „Nichtmuslimen“ erklärt werden. Die Ahmadis glauben, dass der wahre Erlöser, der Messias, noch erscheinen werde und stellen damit Mohammed als letzten Propheten infrage. Sie werden deshalb in Pakistan brutal verfolgt.
Um den Religiösen entgegenzukommen, erklärte Parlamentspräsident Ayaz Sadiq die Änderung in dem Formular zu einem „klerikalen Fehler“ und versprach, dass das Dokument in seiner ursprünglichen Form belassen werde. Das Parlament werde das entsprechend beschließen. Dennoch riefen mehrere religiöse Kleinparteien zum Protest auf. Am 8. November besetzten schätzungsweise 2000 Männer die Kreuzung in Islamabad. Sie fordern die Entlassung von Justizminister Hamid.
Der Versuch von Polizei und Militär am Samstagabend, den Protest gewaltsam aufzulösen, dürfte den Widerstand nur noch vergrößern. Am Samstag griff ein Mob das Haus von Hamid an. Aus immer mehr Städten werden Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften gemeldet. Während Anhänger der Religiösen, darunter mehrere prominente Anwälte, dazu aufriefen, sich gegen die Regierung zu wehren und die Proteste fortzusetzen, warnten Regierungspolitiker, aber auch Menschenrechtsaktivisten davor, den islamischen Hardlinern weiterhin eine Bühne zu bieten. Twitter, Facebook und YouTube, aber auch private Nachrichtensender wurden am Samstag gesperrt.
Nicht religiös genug
Der Grund für die Wut der Religiösen reicht weiter als das geänderte Dokument. Die regierende Partei Pakistan Muslimliga (PML-N) ist den Konservativen schon seit Langem nicht religiös genug. Als der kürzlich wegen Korruption aus dem Amt entfernte Premierminister Nawaz Sharif vor zwei Jahren ein „liberales Pakistan“ forderte, tobten die Konservativen – „liberal“ gilt bei ihnen als Schimpfwort. Im Februar 2016 wurde der Extremist Mumtaz Qadri gehängt, der den pakistanischen Gouverneur Salman Taseer erschossen hatte, weil der sich für eine „Blasphemistin“ eingesetzt hatte. Qadri wurde für seinen Mord von religiösen Hardlinern als Held gefeiert. Seine Hinrichtung lasten sie der Regierung als „Verrat“ an.
Die Regierung in Islamabad ihrerseits reagiert mit erschreckenden Zugeständnissen auf die Extremisten. So wurde diese Woche Hafiz Saeed, Kopf der Terrororganisation Lashkar-i-Toiba, aus seinem Hausarrest erlassen. Saeed, von Islamisten verehrt, ist für viele Anschläge in der Region verantwortlich, darunter für den Angriff auf Mumbai, Indien, im November 2008. Er läuft frei herum und predigt wieder öffentlich. Entsprechend entsetzt reagiert die indische Regierung, und die USA nennen die Aufhebung des Arrests einen „Schritt in die falsche Richtung“ und verlangen die „sofortige Wiederfestnahme und einen Prozess“ gegen Saeed.
Wieder einmal durchlebt Pakistan eine Krise, weil es nicht weiß, was es sein will: Demokratie oder Gottesstaat, liberal oder islamistisch, zivil regiert oder vom Militär. Die Suche nach einer Antwort stürzt Pakistan in diesen Tagen erneut ins Chaos.
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