Unter Amerikas Liberalen lässt sich in diesen Tagen eine seltsame Betriebsamkeit beobachten. Die Menschen rufen ihre Familien und Freunde an, frischen alte, längst vergessene Kontakte auf. Kurz: Sie verhalten sich, als hätten sie gerade eine Katastrophe miterlebt hat oder seien von einer schweren Krankheit getroffen worden. Genau danach fühlt sich Trumps Triumph für sie offensichtlich an.
Das Land ist tief gespalten und das auf beinahe jede denkbare Weise. Viele Clinton-Unterstützer kennen kaum einen Trump Wähler und umgekehrt. Beide Lager hören verschiedene Nachrichten und erzählen einander andere Geschichten. Die meisten Liberale hatten fest an das geglaubt, was ihnen Statistiker und Politik-Strategen wieder und wieder erklärt hatten: Dass Clinton die Wahl solide gewinnen würde, nämlich. Nun sehen sie sich damit konfrontiert, dass Trump – ein Mann, den sie für einen lächerlichen Clown hielten – etwas über ihr Land wusste, das für sie selbst unsichtbar war. Dieses Mysterium beängstigt und verwirrt.
Beunruhigend ist auch die Unsicherheit darüber, was Trump nun tun wird. Die meisten früheren US-Präsidenten waren bei ihrem Amtsantritt eingehegt von ihrer jeweiligen Partei, umgeben von Ideologen und Experten. Oft wurden sie in ihrer Handlungsfähigkeit von einem Kongress oder einem Supreme Court eingeschränkt, in dem andere Ansichten als ihre eigenen dominierten.
Jedediah Purdy
geboren 1974, ist Jura-Professor an der Duke University in North Carolina. Er hat Bücher über die Verfasstheit der amerikanischen Elite, den Wertewandel in der amerikansichen Gesellschaft und die Bedeutung von Eigentum geschrieben. So erschien 1999 „Common Things: Irony, Trust, and Commitment in America“, und 2003 „Being America: Liberty, Commerce and Violence in an American World“. Zuletzt veröffentlichte er im vergangenen Jahr „After Nature: A Politics for the Anthropocene“.
Heute ist die Republikanische Partei im ganzen Land so stark, wie seit einem Jahrhundert nicht mehr. Trotzdem kam Trump als Außenseiter an die Macht, der sich im Wahlkampf offen gegen die Eliten seiner eigenen Partei wandte. Seine Kandidatur war von Grenzüberschreitungen geprägt, er begeisterte seine Anhänger mit „politisch inkorrekten“ Attacken gegen Mexikaner, Muslime und Frauen, die ihm missfielen.
Er sprach gerne über Waffen und die Notwendigkeit, sie auch einzusetzen. Er verbreitete eine Stimmung von physischer Bedrohung und Gewaltbereitschaft. Trotz alledem könnte er ein „normaler“ republikanischer Präsident werden. Oder etwas grundsätzlich anderes, ein Autokrat, der das Land in Freund und Feind spaltet, in Verbündete und Menschen, die es zu bekämpfen gilt. Nicht zu wissen, was als Nächstes passiert, ist schrecklich. Besonders für die vielen Menschen, die fürchten müssen, zu Trumps Opfern zu gehören.
Trumps Sieg unterscheidet sich von Mitt Romneys Niederlage vor vier Jahren in zwei wichtigen Punkten. Erstens verloren die Demokraten im Vergleich zu 2012 Millionen Wähler. Über die Gründe dafür wird in den kommenden Monaten viel diskutiert werden. Lag es daran, dass Clinton einfach nicht dieselbe Begeisterung auslösen konnte wie zuvor Barack Obama, der vor allem bei den Afroamerikanern die Wahlbeteiligung auf Rekordhöhe getrieben hatte? Oder sind die Wahlrechtsreformen schuld, die viele republikanisch regierte Staaten als Reaktion auf Obamas Erfolg verabschiedeten, und die es für arme, junge und schwarze Menschen schwieriger machten, wählen zu gehen?
Zweitens hat sich die soziale Zusammensetzung und Klassenzugehörigkeit der Wählerschaft beider Parteien verändert. Clinton erhielt zwar bei Gewerkschaftsmitgliedern und Haushalten mit einem Jahreseinkommen unter 50.000 US-Dollar mehr Stimmen als Trump, im Vergleich zur Wiederwahl Obamas 2012 fiel der Vorsprung vor dem Republikaner allerdings deutlich geringer aus.
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