Die Welle des Jubels breitet sich von Süden aus und wälzt sich wie eine akustische La Ola durch die Menge. CNN hat sie ausgelöst: Um 22.58 Uhr verkündet der Nachrichtensender auf seinen Displays am Times Square als Erster, worauf Tausende New Yorker stundenlang gewartet hatten: 297 Wahlmännerstimmen für Barack Obama. 27 mehr als notwendig für den Sieg. Ein Schwarzer ist Präsident der Vereinigten Staaten.
Sekunden später erreicht die Jubelwoge das ABC-Studio, das dieselben Zahlen zeigt. Die Menge um mich herum explodiert förmlich in Emotionen. Ein mir unbekannter Riese schnappt und knuddelt mich, überhaupt fallen sich überall wildfremde Menschen in die Arme, Taxifahrer veranstalten Hupkonzerte und klatschen Passanten ab, die Welt scheint aus grinsenden, schreienden, hüpfenden Menschen zu bestehen.
Was für ein Land.
Acht Jahre lang hat George W. Bush regiert, an die Macht gekommen gegen die Mehrheit des Wahlvolks, er hat die USA in einen Krieg hineingelogen und in der Welt unmöglich gemacht, wurde für seine „Bushisms“ genannten Satzunfälle verhöhnt. Er war der Präsident von Finanzcrash und Rezession. Die Menschen hätten gute Gründe, sich von der Politik abzuwenden und in Ressentiments zurückzufallen.
Und jetzt das. Ein schwarzer Jurist, ein begnadeter Redner, ein Intellektueller. Ins Weiße Haus getragen von einer beispiellosen Graswurzelbewegung. Ein Land, das sich neu erfindet, voller Zuversicht, Hoffnung und positiver Energie. Es ist leicht, an diesem 4. November 2008 neidisch zu sein auf diese Demokratie.
Der Geist der ersten Obama-Monate ist verflogen
Ich war damals Dauergast in New York, meine amerikanische Freundin lebte in Manhattan. Es war die Zeit der Rezession nach dem Finanzcrash, und ich war tief beeindruckt von der Fähigkeit der Amerikaner, optimistisch zu bleiben und sogar Witze über die Lage zu reißen. Gray’s Papaya, der berühmte Hotdog-Laden am Broadway, bot ein „Recession Special“ an, bei dem man einen Dollar sparen konnte. Hinter der zweiten Schaufensterscheibe verkündete ein Plakat: „YES Senator Obama. We are ready to believe again!“
Was für ein Land.
Und was für eine Verwandlung.
Im Video: Countdown zur US-Wahl
Vom Geist der ersten Obama-Monate scheint heute kaum noch etwas übrig zu sein. Daran ist Obama selbst nicht ganz unschuldig: Er hat das Gefangenenlager Guantanamo nicht geschlossen, in Afghanistan Drohnenkrieg geführt. Unter ihm wurden CIA und NSA zu globalen Überwachungsbehörden und mehr Whistleblower wegen Spionage angeklagt als unter allen vorherigen Präsidenten zusammen. Obama hat militärisch in Libyen interveniert, ohne einen Plan für die Zeit danach zu haben, er hat den Giftgaseinsatz durch das syrische Regime als rote Linie bezeichnet und nicht gehandelt, als Diktator Assad sie überschritt.
In der Innenpolitik taten die Republikaner derweil alles, um Obamas Präsidentschaft zu sabotieren, bis hin zur wochenlangen Stilllegung der Bundesregierung im Herbst 2010. Auch der Rassismus scheint in den USA nicht abgenommen zu haben, obwohl das so viele nach Obamas Amtsübernahme gehofft hatten.
Dass ein Sieg von Hillary Clinton heute Nacht eine ähnliche Begeisterung auslösen würde wie bei Obama, darf man getrost ausschließen. Wenn ihre Anhänger jubeln, dürften viele das eher aus Erleichterung darüber tun, dass es nicht Donald Trump geworden ist. Ausschließen darf man wohl auch, dass Trump nach einer Niederlage eine Rede halten würde wie 2008 John McCain.
In der Wahlnacht gratuliert der unterlegene Republikaner-Kandidat Obama nicht nur zum Sieg, er drückt seine Bewunderung für ihn aus und bietet ihm seine Hilfe an. In Manhattan haben 85 Prozent Obama gewählt. Als McCains Rede auf dem Times Square übertragen wird, applaudieren sie.
Ich war neidisch auf dieses Amerika.
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