Der beschleunigte Atomausstieg nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima hat für die Bundesregierung ein Nachspiel: Den Energiekonzernen steht für sinnlos gewordene Investitionen und verfallene Produktionsrechte ein angemessener Ausgleich zu.
Dies stellte das Bundesverfassungsgericht nach Klagen von Eon, RWE und Vattenfall fest. Dem Urteil zufolge ist die Gesetzesnovelle, mit der die politische Kehrtwende 2011 besiegelt wurde, zwar im Wesentlichen mit dem Grundgesetz vereinbar. Die Versorger wurden auch nicht enteignet. Es fehle aber eine «verfassungsrechtlich notwendige Ausgleichsregelung», sagte Vizegerichtspräsident Ferdinand Kirchhof bei der Verkündung.
Auf welche Weise die Unternehmen davon profitieren werden, muss sich noch zeigen. Sie waren vor das Verfassungsgericht gezogen, um später Maximalforderungen von schätzungsweise bis zu 19 Milliarden Euro einklagen zu können. So weit geht das Urteil nicht. Laut Kirchhof kann der Ausgleich «in eine finanzielle Leistung münden», aber auch «in Übergangsregelungen oder anderen Alternativen bestehen».
Das könnten beispielsweise auch Laufzeitverlängerungen für einzelne Kraftwerke sein. Umwelt-Staatssekretär Jochen Flasbarth sagte, die Ausgleichsregelungen müssten nun im Ministerium erarbeitet werden. Dafür hat die Politik bis Ende Juni 2018 Zeit. «Milliardenforderungen sind definitiv vom Tisch», zeigte sich Flasbarth aber überzeugt.
Vor gut fünf Jahren hatte die schwarz-gelbe Koalition nach dem Reaktorunglück in Japan für die 17 deutschen Kraftwerke eine erst kurz zuvor beschlossene Laufzeitverlängerung zurückgenommen. Damals wurde besiegelt, dass spätestens Ende 2022 Schluss ist mit der Atomkraft in Deutschland. Bis dahin müssen alle Meiler zu festen Terminen vom Netz. Im Vorjahr zugesagte Extra-Strommengen wurden nachträglich wieder kassiert.
Die Neuregelung bedeutete einen scharfen Einschnitt und ging deutlich über den 2002 von Rot-Grün besiegelten Atomausstieg hinaus. Der damalige «Atomkonsens» mit den Konzernen lief zwar ebenfalls darauf hinaus, dass alle Meiler nach und nach vom Netz gehen. Geregelt war das aber über Reststrommengen, deren Erzeugung noch garantiert wurde.
Die Verfassungsrichter beanstanden nun nicht die Streichung der Extra-Strommengen von 2010. In die 2002 zugeteilten Mengen durften die Konzerne dem Urteil zufolge aber vertrauen. In Kauf zu nehmen, dass Teile davon durch feste Abschalttermine ungenutzt verfallen, sei «unzumutbar, teilweise auch gleichheitswidrig». Das begründet Ansprüche von RWE und Vattenfall, die konzernintern nicht mehr alle Kapazitäten auf andere Kraftwerke umschichten konnten.
Das Urteil verpflichtet auch zum Ausgleich aller Investitionen, die im Vertrauen in die Laufzeitverlängerung zunächst getätigt wurden. Das betrifft die Zeit zwischen Dezember 2010 und März 2011 und kann allen Versorgern zugute kommen. Sie hätten nicht mit einer derart schnellen Kehrtwende rechnen müssen (Az. 1 BvR 2821/11 u.a.).
Bei Vattenfall war bis zuletzt unklar, ob sich der schwedische Staatskonzern überhaupt auf deutsche Grundrechte berufen kann. Ausnahmsweise ist das möglich – ansonsten hätte das Unternehmen keine Möglichkeit, sich in Deutschland vor Gericht gegen den Atomausstieg zu wehren. Der Konzern streitet zusätzlich vor einem Schiedsgericht in den USA um 4,7 Milliarden Euro Entschädigung.
Eine RWE-Sprecherin sagte in Karlsruhe, nun sei der Gesetzgeber gefordert. Von Entschädigungen in Milliardenhöhe gehe sie aber nicht aus. Eon erklärte, man rechne nicht mit kurzfristigen Zahlungen. Das Unternehmen habe im Vertrauen in die schwarz-gelbe Energiepolitik noch einmal Hunderte Millionen Euro investiert. Auch Vattenfall begrüßte das Urteil in einer knappen Mitteilung.
Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter forderte, die Entschädigung auf «das Notwendigste» zu beschränken. Es dürften «nicht erneut Geschenke an die Atomindustrie verteilt werden». SPD-Bundesvize Ralf Stegner machte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mitverantwortlich. «Ihr Zick-Zack-Kurs wird die Steuerzahler Milliarden kosten», meinte er.
Der Bund für Umwelt und Naturschutz warnte davor, Kraftwerken die Laufzeit zu verlängern. Die Risiken erforderten «einen unverzüglichen und endgültigen Atomausstieg», sagte BUND-Chef Hubert Weiger.
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