„Putsch“, „Kapitulationsgesetz“, „Zombie-Parlament“ – es sind Kampfbegriffe, mit denen Boris Johnson und seine Leute derzeit jeden attackieren, der sich ihnen irgendwie in den Weg stellt. Aus der einst so feinsinnigen politischen Debatte in Großbritannien ist eine wüste Wortschlacht geworden.

Der Premierminister inszeniert sich längst als Politiker, der im Sinne des Volkes den Brexit umsetzt – gegen den Widerstand des vermeintlichen Establishments. Zuerst schickte er das Parlament in eine auf fünf Wochen angelegte Zwangspause, um zu verhindern, dass die Abgeordneten seinen radikalen Brexit-Kurs durchkreuzen – ein Gesetz, das einen ungeregelten EU-Ausstieg erschwert, kam trotzdem durch.

Als Großbritanniens Oberstes Gericht schließlich die Suspendierung des Parlaments für illegal erklärte, kommentierte der Premier diese heftige Schlappe so: „Wir im Vereinigten Königreich werden uns nicht davon abhalten lassen, den Willen des Volkes umzusetzen.“

Was macht all das mit Großbritanniens Institutionen, mit der Demokratie? Und kann die Opposition den Premier noch stoppen? Ein Interview mit dem Londoner Verfassungsrechtler Robert Hazell.

Zur Person
  • UCL

    Robert Hazell ist Verfassungsrechtler am University College London. Seine Karriere begann der Brite als Rechtsanwalt, von 1975 bis 1989 arbeitete er als Beamter im Innenministerium. Anschließend war er sechs Jahre lang Direktor der Nuffield Foundation, 1999 wurde er Professor in London.

SPIEGEL: Boris Johnson inszeniert einen Kampf gegen alle, die angeblich den Brexit stoppen wollen: das Parlament, die anderen Parteien, jetzt sogar gegen den Obersten Gerichtshof. Was bedeutet das für die britischen Institutionen?

Robert Hazell: Das ist bedauerlich und ein Rückschritt. Ausgerechnet die Konservative Partei, die einst für Respekt für Gerichte, die Monarchie, das Parlament stand, verunglimpft jetzt offenbar systematisch diese Institutionen. Das sorgt sicher dafür, dass das Vertrauen in Politik und Justiz weiter abnimmt. Ich denke, alle Abgeordnete suchen ernsthaft nach einem Weg aus dem Brexit-Sumpf. Es hilft sicher nicht, wenn führende Politiker, auch der Premierminister, eine hetzerische Sprache nutzen. Wenn der Regierungschef wirklich einen EU-Deal will, braucht er dafür parteiübergreifend Unterstützung. Man kann sich aber nicht die Hand reichen, wenn man sich gegenseitig beleidigt.

SPIEGEL: Die Regierung beharrt darauf, die nun für illegal erklärte Zwangspause für das Parlament gehe nur die Politik etwas an. Halten Sie das Urteil trotzdem für angemessen?

Hazell: Ich stehe fest hinter diesem Urteil. Das Gericht beruft sich auf zwei Prinzipien unserer Demokratie: die parlamentarische Souveränität, also den Umstand, dass das Parlament Gesetze machen kann, die jeder achten muss. Und die Rechenschaftspflicht der Regierung gegenüber dem Parlament. Damit diese wirksam ist muss nach Auffassung der Richter das Parlament zusammenkommen dürfen. Das Gericht hat uns lediglich an die verfassungsrechtlichen Grundlagen erinnert, auf denen unser System basiert.

SPIEGEL: Manche drohen jetzt, der Supreme Court solle künftig politisch besetzt werden.

Hazell: Das ist wirres Gerede und wäre sicherlich keine gute Idee. Wir können froh sein, dass wir eine neutrale und unparteiische Gerichtsbarkeit haben, deren Personal auf allen Ebenen von einer unabhängigen Kommission ausgewählt wird. Politische Erwägungen spielen dabei keine Rolle.

SPIEGEL: Viele rechnen damit, dass das Gericht erneut einschreiten könnte – etwa wenn Johnson das kürzlich verabschiedete Gesetz umgehen will, das ihn im Zweifel zwingen würde, den Brexit-Aufschub zu beantragen. Was bleibt dem Premier da noch?

Hazell: Formal verlangt das sogenannte Benn-Gesetz, dass die Regierung um einen Aufschub des Brexit-Termins bitten muss, wenn sie bis zum 19. Oktober kein EU-Austrittsabkommen vorweisen kann. Der Premierminister hat bislang keine klare Zusage gegeben, dass er die Auflagen dieses Gesetzes respektieren wird, sollten wir an diesen Punkt angelangen. Niemand weiß also, was passiert, wenn wir am 19. Oktober keinen Deal haben.

SPIEGEL: Johnson sagt, er wolle das Gesetz achten, aber auf jeden Fall am 31. Oktober aus der EU aussteigen.

Hazell: Das ist nicht miteinander vereinbar. Ich glaube, der politische Druck auf ihn wird gewaltig sein, sollte er sich weigern, einen Aufschub zu beantragen. Ich erwarte, dass es in diesem Fall eine Misstrauensabstimmung gibt und dass das Unterhaus versuchen würde, Johnson als Premierminister abzusetzen. Außerdem könnte es Versuche geben, mögliche Schlupflöcher im Benn-Gesetz zu schließen.

SPIEGEL: Welche Taktik verfolgt die Regierung?

Hazell: Die bereiten sich auf schnelle Neuwahlen vor. Und ihr Motto ist „Volk gegen Parlament“.

SPIEGEL: Für den Brexit-Termin sind sie damit aber zu spät.

Hazell: Richtig. Es gibt keine Chance mehr auf Neuwahlen vor dem 31. Oktober, sondern vermutlich erst im November. Auch wenn Johnson es gerne anders gehabt hätte. Er geht jetzt ein politisches Risiko ein. Wenn er keinen Brexit Ende Oktober liefert, könnten einige seiner Anhänger enttäuscht sein und bei den Wahlen stattdessen die Brexit-Partei von Nigel Farage unterstützen.

SPIEGEL: Die Regierung hat im Unterhaus keine Mehrheit mehr. Müsste nicht die Queen einschreiten?

Hazell: Niemand weiß, wie wütend die Queen ist oder wie beschämt sie sich fühlt, dass sie auf Anraten der Regierung unrechtmäßig das Parlament suspendiert hat. Ich vermute mal, dass sie nicht erfreut war. Aber für einen modernen Monarchen ist es undenkbar, sich politisch einzuschalten, auch wenn es darum ginge, parteiübergreifend Menschen für einen Kompromiss an einen Tisch zu bringen.

SPIEGEL: Und wenn sich Johnson trotz eines Misstrauensvotums an sein Amt klammert?

Hazell: Wenn das Unterhaus klarmacht, dass es einen Alternativkandidaten unterstützt, und Johnson trotzdem nicht gehen will, könnte ihn die Queen entlassen. Diese Macht hat sie.

SPIEGEL: Steckt Großbritannien in einer Verfassungskrise?

Hazell: Auf jeden Fall befinden wir uns in einer tiefen politischen Krise. Wir haben eine Minderheitsregierung, die kaum Unterstützung im Unterhaus für ihre Politik findet. Insbesondere gibt es keine Mehrheit für einen EU-Austritt ohne Abkommen. Das echte verfassungsrechtliche Problem haben wir aber durch das Brexit-Referendum selbst. Es ist nicht geklärt, welche Rolle Volksabstimmungen in unserem System spielen und was passiert, wenn es Spannungen zwischen der direkten Demokratie und der Institution repräsentativer Demokratie gibt.

SPIEGEL: Ist es ein Problem, dass es keine geschriebene Verfassung gibt?

Hazell: Nein. Ich glaube, jedes europäische Land, das die EU verlassen will, würde in solche außergewöhnlichen politischen und verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten geraten. Alle Demokratien stützen sich sehr stark auf Konventionen. Ein Ergebnis der vergiftenden Brexit-Politik ist, dass Menschen bereit dazu sind, seit langer Zeit bestehende Gepflogenheiten zu kippen.

SPIEGEL: Ist das Amt des Premierministers dauerhaft beschädigt?

Hazell: Es ist das höchste politische Amt im Land und wir erwarten, dass unsere Premierminister verantwortungsbewusst handeln und sich würdevoll verhalten. Beides hat Johnson mit seiner Reaktion auf das Urteil des Supreme Courts nicht getan. Stattdessen untergräbt er die Legitimität des Parlaments. Das ist ein sehr gefährlicher Weg.

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