Bellingcat enttarnte bereits Killerkommandos des Kremls, deckte Giftanschläge auf und identifizierte den Täter im Fall des Berliner Tiergartenmords. Nun sind sich die Experten des Recherchenetzwerks sicher: Roman Abramowitsch wurde zum Ziel einer Vergiftung. 

Was geschah in der Nacht vom 3. auf den 4. März in Kiew? Nach Informationen des US-Magazins „Wall Street Journal“, des Recherchenetzwerks Bellingcat und des russischen Investigativmediums „The Insider“ wurde in dieser Nacht der Milliardär Roman Abramowitsch und zwei Unterhändler der ukrainischen Delegation, die mit Russland Kriegsverhandlungen geführt hatten, Opfer einer Vergiftung.

„Abramowitsch nahm als ukrainischer Unterhändler an den Gesprächen teil. Drei der sechs Delegierten übernachteten nach den Verhandlungen in einer Kiewer Wohnung. Und alle drei stellten bei sich in der Nacht Symptome einer Vergiftung fest“, berichtete der Journalist Roman Dobrochotow in einem Interview mit dem oppositionellen Youtube-Sender „Popularnaja Politika“. Alle hätten über „juckende Augen und Haut“ geklagt. „Abramowitsch konnte sogar für einige Stunden nichts sehen.“ 

Die Symptome seien bis zum Morgen zu beobachten gewesen. Mindestens einer der Männer sei von einem Arzt untersucht worden. Anschließend hätte die Gruppe sich an Bellingcat gewandt, da das Netzwerk bereits in der Vergangenheit Vergiftungsfälle aufgeklärt hat und über gute Kontakte zu Experten auf diesem Gebiet verfügt. 

paid

Experten einigen sich auf Chlorpicrin

Bei Bellingcat ist man sicher: Abramowitsch und die zwei ukrainischen Delegierten wurden vergiftet. Nach Angaben des investigativen Journalisten Christo Grozew, der die Recherchen zu dem Vorfall leitete, sei ein Expertenteam zu dem Ergebnis gekommen, dass höchstwahrscheinlich eine Chemiewaffe zum Einsatz gekommen ist. „Alle Experten, die mit den Betroffenen im Austausch standen, sich ihre Fotos angesehen haben und sie auch untersucht haben, sind sich einig, dass dies kein Zufall, keine Lebensmittelvergiftung und keine Allergie ist“, sagte er gegenüber den Mitstreitern von Alexej Nawalny, die seit dem Ausbruch des Kriegs den Kanal „Popularnaja Politika“ ins Leben gerufen haben. Chlorpicrin heißt der chemische Kampfstoff, dessen Einsatz alle Experten für möglich hielten. 

Chlorpicrin gehört zu der Gruppe der Lungenkampfstoffe. Zum ersten Mal zum Einsatz kam er im Ersten Weltkrieg in verschiedenen deutschen Kanonen, Haubitzen und Mörsern. Chlorpikrin ruft beim Menschen Hautblasen hervor und führt zu Augenreizungen und Atembeschwerden. Es kann sich auch ein Lungenödem entwickeln. Da die Symptome über Stunden verzögert auftreten können, muss die mögliche Aufnahmezeit beachtet werden. Die Vergiftungen können zu schweren Erkrankungen und zum Tod durch Ersticken führen.

„Der einzige Schwachpunkt dieser Theorie ist, dass Chlorpicrin einen sehr strengen Geruch hat. Daher ist es schwierig ihn unbemerkt in den Organismus zu bringen“, sagte Grozew. Es gebe allerdings auch die Information, dass eine geruchlose Variante des Kampfstoffs entwickelt worden sei. Auch eine geringe Dosis des Nervengifts Nowitschok könne zu solchen Symptomen führen. „Was es letztendlich war, bleibt ein Mysterium.“ Um den Vorfall vollständig aufzuklären, hätten Blutproben in einem Laboratorium untersucht werden müssen, dass auf Chemiewaffen spezialisiert ist. Doch zu dem Zeitpunkt, wo den Betroffenen dieser Schritt möglich gewesen wäre, sei es bereits zu spät gewesen. „Möglicherweise erfahren wir nie, was es war.“

Teaser

Kiew und Moskau sprechen von „Informationskrieg“

Der Kreml hat die Berichte über die mögliche Vergiftung als Teil eines „Informationskrieges“ bezeichnet. „Das ist Teil einer Informationskampagne, Teil einer Informationssabotage, das ist Teil eines Informationskrieges“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Dienstag. „Diese Berichte sind definitiv nicht wahr.“

Auch die ukrainische Seite hat die Berichte zurückgewiesen und sprach ebenfalls von einem Informationskrieg. Dennoch hat der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba die Mitglieder der eigenen Delegation bei den erneuten Friedensverhandlungen mit Russland in der Türkei zur Vorsicht aufgerufen. Ukrainische Medien zitierten Kuleba am Dienstag mit folgendem Rat: „Nichts trinken, nichts essen und keine Oberflächen berühren.“

FS

Für Grozew liegt es auf der Hand, warum die ukrainische Seite die Möglichkeit einer Vergiftung abstreitet. „Die ukrainische Regierung will nicht, dass solch ein Fall publik wird. Sie will nicht, dass der Verhandlungsprozess zum Erliegen kommt.“ Dies könnte der Grund für die Verlautbarungen der US-Geheimdienste sein, das Ganze sei auf „Umwelteinflüsse“ zurückzuführen. „Das ähnelt den einstigen Erklärungen des Kremls, dass Nawalny Probleme mit Glukose hatte.“

Warnung für Roman Abramowitsch oder Sabotage? 

Der Kreml leugnet die Möglichkeit seinerseits, weil der erste Verdacht auf Moskau fällt. Dort gibt es mehrere Varianten, warum man einen Anschlag auf Abramowitsch hätte verüben wollen. In der Diskussion sind vor allem zwei Theorien: Entweder sei die Vergiftung als Warnung gedacht gewesen. Abramowitschs Rolle bei den Verhandlungen käme für Wladimir Putin einem Verrat gleich. Oder die Hardliner innerhalb der russischen Geheimdienste hätten ohne eine Anweisung aus dem Kreml gehandelt. Sie könnten womöglich auf diese Weise den Friedensprozess sabotieren wollen, da sie befürchten im Falle einer russischen Niederlage Opfer von Säuberungen zu werden. 

Lesen Sie mehr auf Quelle