Kiew/Moskau/Brüssel – Dramatische Eskalation im Konflikt um die Ukraine: Russlands Präsident Wladimir Putin hat die Entsendung von Truppen in den umkämpften Osten des Landes angeordnet. Dies geht aus einem Dekret hervor, das der Kremlchef in Moskau unterzeichnet hat.
Die Einheiten sollen in den kurz zuvor von ihm als unabhängige Staaten anerkannten «Volksrepubliken Luhansk und Donezk» für «Frieden» sorgen. Putin forderte die ukrainische Führung auf, sofort das Feuer einzustellen. Andernfalls werde Kiew die volle Verantwortung dafür tragen, sagte er. Wann die Soldaten in die von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebiete einrücken, ist zunächst unklar.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj reagierte auf die russische Anerkennung der «Volksrepubliken» zurückhaltend. «Wir sind dem friedlichen und diplomatischen Weg treu und werden nur auf diesem gehen», sagte er. Auf Provokationen werde Kiew nicht reagieren – aber auch kein Territorium aufgeben. «Wir erwarten von unseren Partnern klare und wirkungsvolle Schritte der Unterstützung.»
Die Ukraine wünsche sich neben Sondersitzungen des UN-Sicherheitsrats und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) einen Gipfel im sogenannten Normandie-Format, so Selenskyj. «Wir erwarten von unseren Partnern klare und wirkungsvolle Schritte der Unterstützung», hob der ukrainische Staatschef hervor.
Westen reagiert mit Sanktionen
Bundeskanzler Olaf Scholz, US-Präsident Biden und der französische Präsident Emmanuel Macron telefonierten und waren sich einig, dass dieser Schritt Russlands nicht unbeantwortet bleiben werde. Alle drei erklärten sich einem Sprecher zufolge solidarisch mit der Ukraine. Außenministerin Annalena Baerbock verurteilte die Anerkennung der Separatisten-Regionen zudem als «eklatanten Bruch des Völkerrechts».
Vertreter der 27 EU-Staaten haben am Dienstagvormittag in Brüssel mit Beratungen über die geplanten EU-Sanktionen gegen Russland begonnen. Wie Diplomaten der Deutschen Presse-Agentur bestätigten, legten die EU-Kommission und der Auswärtige Dienst dazu einen konkreten Vorschlag für Strafmaßnahmen vor. Er umfasst Angaben aus EU-Kreisen zufolge insbesondere Sanktionen gegen zahlreiche Einzelpersonen, aber auch andere Maßnahmen. Über Details gab es zunächst keine Informationen.
Von Personen, Organisationen und Unternehmen, die auf die EU-Sanktionsliste gesetzt werden, werden sämtliche in der EU vorhandenen Vermögenswerte eingefroren. Zudem dürfen gelistete Personen nicht mehr in die EU einreisen und mit den Betroffenen dürfen auch keine Geschäfte mehr gemacht werden.
Auch die US-Regierung will neue Maßnahmen gegen Russland ankündigen. Biden unterzeichnete eine Exekutivanordnung mit Sanktionen. Diese sollen neue Investitionen, Handel und Finanzierung durch US-Personen in Donezk und Luhansk verbieten. Biden bekräftigte, dass die USA im Gleichschritt mit ihren Verbündeten und Partnern «rasch und entschlossen» auf eine weitere russische Aggression reagieren würden.
Lawow zu Sanktionen: «Wir haben uns daran gewöhnt»
Russlands Außenminister Sergej Lawrow kritisiert derweil die Androhung neuer Sanktionen des Westens gegen Moskau. Der Westen mache Russland für das Scheitern des Friedensplans für die Ostukraine verantwortlich, sagte Lawrow am Dienstag im Staatsfernsehen. Die Amerikaner und Europäer würden sich erst dann beruhigen, wenn «sie ihre Möglichkeiten für die sogenannte Bestrafung Russlands ausgeschöpft haben». Lawrow sagte: «Sie drohen bereits mit allen möglichen Sanktionen. (…) Wir haben uns daran gewöhnt.»
Zugleich rief das russische Außenministerium andere Länder auf, dem Beispiel Russlands zu folgen und die Gebieten in der Ostukraine ebenfalls anzuerkennen.
Diplomatisches US-Personal zieht nach Polen
Die US-Regierung geht davon aus, dass Putin seine Ankündigung schon bald umsetzen wird und verlegte ihr diplomatisches Personal vorerst nach Polen. Russland könnte «heute Nacht oder morgen oder in den kommenden Tagen» handeln, sagte der stellvertretende nationale Sicherheitsberater Jon Finer dem Sender CNN. Die amerikanische UN-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield sagte, der Entsendungsbefehl russischer Truppen sei der erste Schritt zum vollständigen Einmarsch.
Der britische Premierminister Boris Johnson prangerte den Schritt Putins ebenfalls als «offenen Bruch internationalen Rechts» an und sprach von einer «schamlosen Verletzung der Souveränität und Integrität der Ukraine». Kanadas Regierungschef Justin Trudeau twitterte: «Kanada steht fest an der Seite der Ukraine – und wir werden Wirtschaftssanktionen für diese Handlungen verhängen.»
Litauens Staatspräsident Gitanas Nauseda erklärte: «Was wir heute Abend erlebt haben, mag für die demokratische Welt surreal erscheinen. Aber die Art und Weise, wie wir darauf reagieren, wird uns für die nachfolgenden Generationen definieren». Das EU- und Nato-Mitglied Litauen fühlt sich ebenfalls von Russland bedroht.
Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) verurteilte die Anerkennung der «Volksrepubliken» scharf.
Die Türkei hat die russische Anerkennung ebenfalls scharf kritisiert. «Die Entscheidung der Russischen Föderation ist inakzeptabel und wir lehnen sie ab», teilte das türkische Außenministerium mit. Sie stelle eine «klare Verletzung der politischen Einheit und territorialen Integrität der Ukraine dar».
Alle betroffenen Parteien sollten «mit gesundem Menschenverstand» handeln und sich an das Völkerrecht halten. Bürgerinnen und Bürger der Türkei wurden «nachdrücklich» aufgefordert, die östlichen Regionen der Ukraine zu verlassen.
Verstoß gegen UN-Charta
Die Vereinten Nationen kritisierten den Entsendungsbefehl als Verstoß gegen die UN-Charta. «Wir bedauern auch den Befehl, russische Truppen in der Ostukraine zu stationieren, Berichten zufolge im Rahmen einer Friedensmission», sagte die UN-Beauftragte für politische Angelegenheiten, Rosemary DiCarlo, bei einer kurzfristig anberaumten Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates in New York. «Die nächsten Stunden und Tage werden entscheidend sein. Das Risiko eines größeren Konflikts ist real und muss um jeden Preis verhindert werden.»
Im Rahmen der Sitzung rief China alle Beteiligten zur Zurückhaltung auf. «Alle betroffenen Parteien müssen Zurückhaltung üben und alles vermeiden, was Spannungen schüren könnte», sagte der chinesische UN-Botschafter Zhang Jun. «Wir glauben, dass alle Länder internationale Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln im Einklang mit den Zielen und Grundsätzen der UN-Charta lösen sollten.»
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