Wenn es um das Verhältnis des heutigen Russlands zur sowjetischen Geschichte geht, dreht sich das Gespräch in der Regel um drei Themen: um den Sieg über Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg, um politische Repressionen und um die Sehnsucht nach dem angeblich so einfachen und sozial gesicherten Leben nach Stalins Tod. Bei zwei dieser Themen – soziale Sicherheit und Repressionen – gibt es keinen Konsens in der gesellschaftlichen Debatte. Einig sind sich mit wenigen Ausnahmen alle beim Thema Krieg gegen Deutschland.

Einigkeit besteht erstens darin, dass die Sowjetunion Opfer eines Überfalls war und einen gerechten Krieg führte, zweitens, dass der Sieg der Sowjetunion viele Völker in Osteuropa vor der physischen Vernichtung  bewahrt hat und drittens, dass die Sowjetunion die Hauptrolle beim Sieg über den Nationalsozialismus gespielt hat. Alle diese Punkte werden im internationalen Erinnerungsstreit heute in Abrede gestellt.

Bislang nicht ausreichend aufgearbeitet worden sind zwei andere Themen der sowjetischen Geschichte: die Nationalitätenpolitik und die Neigung der Intellektuellen zum Westen in den siebziger und achtziger Jahren. In welchem Maße diese Themen verstanden werden – oder eben nicht verstanden werden–, davon hängt unmittelbar ab, welche Entscheidungen über Russlands Zukunft getroffen werden.

Die Ruinen der sowjetischen Nationalitätenpolitik

Das wichtigste Thema ist die Nationalitätenpolitik der Sowjetunion. Nach dem Zerfall der Sowjetunion waren 80 Prozent der Bevölkerung Russlands ethnische Russen. Unter Berücksichtigung der verbreiteten Vorstellung, dass der Nationalstaat (nation-state) die „normale“ Form der politischen Organisation darstellt, verleitet das zahlenmäßige Übergewicht ethnischer Russen dazu, Russland als einen nationalisierenden Staat (nationalizing state) zu betrachten – also als einen Staat, in dem Russen als Titularnation die legitimen „ethnischen Eigentümer“ sind. 

Dabei hat Russland von der Sowjetunion die Ruinen einer Nationalitätenpolitik geerbt, die darin bestand, der ethnischen Zugehörigkeit Institutionen zu schaffen und ihnen ein Territorium zuzusprechen. Auf dem Höhepunkt dieser Politik in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts existierten in der Sowjetunion etwa 10.000 nationalterritoriale Einheiten. Die Sowjetmacht arbeitete nicht nach dem Konzept der nationalen Minderheiten, sondern schuf immer neue territoriale Einheiten, in denen einzelne ethnische Gruppen zur Mehrheit wurden. Diese Territorien wurden von den jeweiligen Gruppen dann als ihr „ethnisches Eigentum“ betrachtet.

Im heutigen Russland gibt es immerhin 22 autonome Republiken, deren namensgebende Volksgruppen eine politisch mobilisierte, territorial verankerte Gemeinschaft darstellen, man könnte sogar sagen: eine Nation.

Die Ruinen sind also keine Leerstellen. Der Versuch, in diesen Räumen einen Nationalstaat aufzubauen, ohne das sowjetische Erbe zu berücksichtigen, ist zum Scheitern verurteilt. Und weil es diese autonomen Räume gibt, können die Prinzipien eines einheitlichen Rechtsraums und der Gleichberechtigung aller Bürger ohne Berücksichtigung ihrer ethnischen Zugehörigkeit nicht vollständig umgesetzt werden.

Das stellt Russland vor die große politische Herausforderung, künftig ein grundsätzlich neues Modell eines föderalen Staates zu entwickeln, das diese Ruinen, dieses Erbe der sowjetischen Nationalitätenpolitik mit einbezieht.

Gleichzeitig können andere Teile dieses Erbes, wie zum Beispiel die weite Verbreitung von Ehen zwischen Angehörigen verschiedener Ethnien, eine wichtige Rolle spielen bei der Lösung des Problems der Binnenmigration oder bei der Integration der zahlreichen Migranten aus den ehemaligen Sowjetrepubliken.

Beziehung zu den Nachbarn

Das Erbe der sowjetischen Nationalitätenpolitik beinhaltet einen weiteren Aspekt, um den man nicht herumkommt: Die Suche nach einer Balance zwischen dem idealisierten Bild der Beziehungen zwischen den Volksgruppen in der ehemaligen UdSSR, das heute in Russland vorherrscht, und dem einseitig negativen Bild dieser Beziehungen, das in den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken vorherrscht und manchmal sogar in den autonomen Republiken der Russischen Föderation.

Russen werden in absehbarer Zeit wohl kaum einen produktiven Dialog mit ihren Nachbarn darüber führen. Auf beiden Seiten fehlt dazu der politische Wille und die Positionen liegen zu weit auseinander. Für die Russen wäre es in dieser Situation daher ratsam, dieses Thema zunächst miteinander, also unter sich zu diskutieren, um nicht in den für die Staaten Osteuropas so typischen nationalen Narzissmus zu verfallen und sich als Opfernation zu sehen.

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