Der Ukraine mit allem helfen, was geht. Nach Butscha und Kramatorsk scheint diese Position die einzig richtige. Und doch gibt es ein paar bedenkenswerte Überlegungen, die gegen die Lieferung schwerer Waffen an Kiew sprechen. Überblick über eine komplizierte Debatte.
Die USA tun es, die Tschechen haben es getan und die Niederlande, Belgien und auch Kanada wollen es jetzt tun: die Ukraine in ihrem von Putin aufgezwungenem Krieg gegen Russland mit schweren Waffen unterstützen. Bei all der lautstarken Bereitschaft fällt das Zögern von Deutschland um so mehr auf. Seit Tagen wird Bundeskanzler Olaf Scholz gedrängt, sich in der Frage nach der Lieferung von schweren Waffen an Kiew zu positionieren. Auch aus den Fraktionen seiner Ampel-Partner wird der Druck immer größer.
Am Dienstag hatte sich Scholz an einer Art Befreiungsschlag versucht, indem er ankündigte, quasi eine Umwegfinanzierung in Gang zu setzen: Die Ukraine erhält überzähliges, schweres Gerät von Nato-Partnerländern, die Bundesrepublik sorgt in diesen Ländern finanziell für Ersatz. Direkt aus Deutschland aber sollen die Waffen nach wie vor nicht kommen. Warum eigentlich nicht? Ein Überblick.STERN PAID Meinung Gut, dass sich Scholz nicht treiben lässt 10.54h
Schwere Waffen – was bedeutet das eigentlich?
Eine starre Grenze zwischen leichten und schweren Waffen gibt es nicht. Im KSZE-Vertrag von 1990, in der die Anzahl der konventionellen Streitkräfte in Europa festgelegt wurde, werden fünf Kategorien schwerer Waffensysteme identifiziert: Kampfpanzer, gepanzerte Kampffahrzeuge, Artillerie, Kampfflugzeuge und Kampfhubschrauber. Auch Kriegsschiffe dürften in die Kategorie fallen.
Welche Waffen will die Ukraine?
Nach Ansicht vieler Beobachter tritt der Krieg in der Ukraine derzeit in eine neue Phase ein. Nach dem Rückschlag bei Kiew ordnet Putin seine Truppen neu und hat die Eroberung des kompletten Donbass als prioritäres Kriegsziel ausgerufen. Das bedeutet aber: „Der Charakter des Krieges wird sich völlig verändern. Es kommt jetzt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem mechanisierten Krieg, zu größeren Schlachten zwischen mechanisierten Verbänden. Es wird noch blutiger werden, die Gefechte noch heftiger“, sagt Steffen Gady, Analyst beim britischen Institute for International Strategic Studies, in einem SZ-Interview.
Und dazu braucht es Waffensysteme, wie sie Ukraine-Präsident Wolodymyr Selenskyj seit Wochen gebetsmühlenartig fordert: Schützenpanzer. Kampfpanzer. Artillerie. In einem Video auf Twitter nannte Selenskyj ganz konkret Namen und Typenbezeichnungen: u.a. Mehrfachraketenwerfer vom Typ Smertsch oder Grad. Panzer vom sowjetischen Typ T-72 oder ähnliche amerikanische oder deutsche Modelle. Flugabwehrsysteme des Typs S-300 oder BUK sowie Kampfflugzeuge.FS Ukraine-Konflikt Grafiken 21-15
Was hat Deutschland bisher geliefert?
Offizielle Angaben dazu gibt es nicht. Selbst Parlamentarier können sich nur in der Geheimschutzstelle des Bundestags darüber informieren und sind zum Stillschweigen verpflichtet. Immerhin weiß man aus den Anfangstagen des Krieges, dass Deutschland Luftabwehrraketen von Typ Stinger bzw. Strela geliefert hat. Ferner Panzerfäuste, Maschinengewehre, Nachtsichtgeräte und gepanzerte Fahrzeuge. Nicht zu vergessen die 5000 Helme, über die so viel gespottet wurde. Auch über das ungefähre Volumen kursiert eine Zahl. Demnach hat die Bundesregierung bis Ende März nach Angaben des Wirtschaftsministeriums Material im Wert von 186 Millionen Euro für die Ukraine genehmigt.
Seitdem gibt es kaum noch belastbare Aussagen, mit welchen Mitteln die Ukraine derzeit von Deutschland unterstützt wird. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht verwies „aus Sicherheitsgründen“ auf die nötige Geheimhaltung. Ende März gab es Meldungen, wonach der Bundesregierung eine Liste mit Rüstungsgütern im Wert von etwa 300 Millionen Euro vorliege, die kurzfristig an die Ukraine geliefert werden könnten. Dabei handelte es sich offenkundig nicht um Material der Bundeswehr, sondern um Güter, die die Rüstungsindustrie ohne großen Vorlauf liefern könnte, darunter befanden sich laut SZ-Informationen u.a. Mörser, Aufklärungsdrohnen, Bodenüberwachungsradargeräte sowie Anlagen zur Luftraumüberwachung. Ob davon inzwischen etwas an die Ukraine abgegangen ist, darüber gibt es keine offiziellen Angaben.Donbass Offensive 16.16
Tun andere Nato-Staaten mehr?
Ja, ganz eindeutig. Auf Twitter kursierten Bilder von einem Zug mit mehreren Dutzend Panzern der sowjetischen Bauart T-72, der aus Tschechien in die Ukraine abgegangen sein soll. Vor Ostern hatten die USA zugesichert, der Ukraine rasch elf Hubschrauber russischer Bauart vom Typ Mi-17, 200 gepanzerte Mannschaftstransporter vom Typ M113 sowie 18 Feldhaubitzen vom Typ 155 Millimeter mit 40.000 Artilleriegeschossen zu liefern Am Morgen kündigte Kanada an, der Ukraine schwere Artilleriewaffen zur Verfügung zu stellen. Gestern hatten bereits Belgien und die Niederlande ihre Bereitschaft zur Lieferung schwerer Waffen klar gemacht.
Was könnte Deutschland tun?
Darüber gehen die Meinungen stark auseinander. Bundeskanzler Olaf Scholz hat in seiner Pressekonferenz gestern zu verstehen gegeben, dass eine Lieferung aus Beständen der Bundeswehr kaum möglich ist. „Hier müssen wir inzwischen erkennen, dass die Möglichkeiten, die wir haben, an ihre Grenzen stoßen“, sagte Scholz. Hintergrund ist, dass die Bundeswehr ihre schwere Waffen selbst für sich beansprucht, um die Landes- und Bündnisverteidigung gewährleisten zu können. Das gilt beispielsweise für Marder-Schützenpanzer oder die Panzerhaubitze 2000, ein schweres Artilleriegeschütz.
Allerdings hat die deutsche Rüstungsindustrie eine ganze Reihe gebrauchter Waffensysteme in den Lagern, die sie verkaufen möchte, aber noch nicht einsatzbereit überarbeitet hat. Darunter sind Schützenpanzer Marder der Waffenschmiede Rheinmetall. Die Rede war auch von ausgemusterten Leopard-1-Kampfpanzern. Eine Idee, die im Raum steht: Die Bundeswehr könnte in Vorlage gehen, der Ukraine schwere Waffen bereitstellen und dafür nach einer Wartezeit überholtes Gerät bekommen. Das wiederum wird jedoch von der Militärführung kritisch gesehen. „Um die Streitmacht zu betreiben und auch Folgekräfte auszubilden, brauchen wir die Waffensysteme“, sagte der stellvertretende Generalinspekteur der Bundeswehr, Markus Laubenthal, im ZDF-„Morgenmagazin“.
Könnten die Ukrainer mit deutschen Leopard- und Marder-Panzern überhaupt umgehen?
Dazu gibt es unterschiedliche Angaben. Von deutscher Seite wird auf umfangreiche Ausbildung für solche „Dienstposten“ verwiesen. Die Ukraine lässt das nicht gelten und will möglichst jetzt Training und Zusagen, um in einigen Monaten Feuerkraft und geschützte Bewegung auf dem Gefechtsfeld zu haben. Es handele sich um Soldaten der Panzertruppe, die ihre Kenntnisse auf das neue Gerät übertragen könnten.
Allerdings: Mit der Lieferung allein ist es nicht getan. Für den Betrieb der schweren Geräte sind Ersatzteile und Wartungsarbeiten nötig. Eine Aufgabe, für die es ausgebildetes Personal braucht.
Was spricht für die Lieferung von schweren Waffen?
Putin wird nicht aufhören! So lautet das durchaus zwingend klingende Argument der Befürworter von Waffenlieferungen. Auch in der Nato kursiert die Befürchtung, dass sich Putin bei einem erfolgreichen Waffengang in der Ukraine als nächstes Ländern wie Moldau oder den baltischen Staaten zuwenden wird. Daraus folgt die Logik, dass die Ukraine mit dem Widerstand gegen den russischen Angriff „auch für uns“ kämpft und insofern jede Unterstützung verdient.STERN PAID 17_22 Zeitenwende Politik Deutschland 6.14
Was spricht dagegen?
Sicher, moralisch scheint die Unterstützung der Ukraine mit allem, was geht, zwingend geboten. Jedoch gab und gibt es bei allen Überlegungen der Nato bislang eine rote Linie: Wladimir Putin bloß keinen Vorwand dafür zu liefern, als Kriegspartei wahrgenommen zu werden. Denn das könnte, so die Befürchtung, womöglich eine Eskalationsspirale in Ganz setzen und am Ende in einem Atomkrieg münden.
Zwar ist die Unterstützung von Kriegsparteien mit Waffenlieferungen vom Völkerrecht gedeckt, worauf jüngst erst Justizminister Marco Buschmann hinwies. Andererseits hatte Putin bereits zu Beginn des Krieges die Nato-Staaten unter Verweis auf beispiellose Konsequenzen vor einer Einmischung gewarnt. Was in der Nato durchaus als Drohung mit Atomwaffen wahrgenommen worden ist. Die Sorge vor einer aggressiven Reaktion des Kremlchefs auf die Lieferung von schwerem Nato-Gerät ist also nicht ganz unbegründet.
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